Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
noch nicht vollständig regeneriert hatte.
»Was ist?«
»Ist das dein üblicher Aufzug, wenn du zum Dinner verabredet bist?«
11
Oben in der Nähe von Old Oak Common war ein thailändisches Restaurant, in dem ich schon einige Male gegessen hatte. Es war perfekt für einen Imbiss und Cocktails nach der Arbeit – oder nach der Sammelexekution durchgedrehter Schießwütiger in ausgebrannten Einkaufszentren. Und da es dort keinerlei Bekleidungsvorschriften gab, machte es auch nichts aus, ob man ein Einschussloch in der Brust hatte und eine große Austrittswunde die Silhouette des Sakkos ruinierte.
Um fair zu bleiben: Als wir dort eintrafen, sah Juliet fast genauso frisch und wohlriechend aus, als wäre sie soeben aus der Dusche gekommen. Ein Bild, das ich sofort wegschalten musste, ehe meine Phantasie außer Kontrolle geriet. Das Blut, das die Vorderseite ihrer Bluse getränkt hatte, war verschwunden, und die Blutergüsse an ihrem Kinn waren fast bis zur Unsichtbarkeit verblasst. Ich hatte gesehen, wie Asmodeus etwas Ähnliches mit Rafis Körper gemacht hatte, als er bei einem seiner Amokläufe verletzt worden war, aber dies hier war extremer und geschah erheblich schneller – ich vermute, weil Rafis Körper immer noch aus echtem Fleisch und Blut bestand, während Juliets – nun, er bestand aus etwas anderem. Ich habe nie gewusst, wie ich sie danach fragen soll.
Ein Oberkellner, dessen betont zuvorkommende, geschliffene Fassade durch Juliets schwarzäugigen Blick leichte Risse bekam, platzierte uns an einen Fenstertisch – zweifellos weil er erkannte, welche Wirkung ihr Anblick auf die Laufkundschaft haben würde. Sobald er sich zurückgezogen hatte, griff sie in eine Tasche und holte einen dicken Stapel Papier hervor, den sie auseinanderfaltete und zwischen uns auf den Tisch legte.
»Patterson, Alfred«, sagte sie und fächerte die einzelnen Blätter auseinander. »Heffer, Laurence. Heffer, John. Jones, Kenneth. Montgomery, Lilly.«
Es war ein Stapel fotokopierter Seiten, alle im gleichen Format. Auf jeder befand sich in der rechten oberen Ecke ein Passfoto. Vorwiegend Männer, ein paar Frauen, allesamt durchschnittlich bis langweilig. Die Gesichter starrten mich mit jener verschreckten Ernsthaftigkeit an, die man von Leuten erwartete, deren Leben soeben sämtlicher gewohnten Grundlagen entrissen und in Wahnsinn und Verzweiflung umgeleitet worden war.
»Das sind Polizeiberichte.«
Juliet nickte und blätterte in der Speisekarte.
»Wie bist an die herangekommen?«
»Ein netter junger Constable in der Oldfield Lane hat sie für mich abgezweigt.«
Ich legte mir die Formulierung der nächsten Frage sehr sorgfältig zurecht. »Hast du ihn bestochen oder …?«
»Er durfte meine Hand halten.«
Ein Kellner schlich um unseren Tisch herum. Er war nicht mehr als ein Jungspund mit fuchsroten Locken und runden, mit Sommersprossen übersäten Wangen. Er konnte den Blick nicht von Juliet abwenden. Natürlich, bessere Männer als ich waren vor dieser Hürde gestürzt. Ich schaute hoch und klopfte mit einer Fingerspitze auf den Tisch. Nach einem kurzen Moment drehte er sich halb zu mir um und sah mich an, als wäre er keinesfalls gewillt, meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. »Kann ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?«, fragte er in einem gewollt aufgeräumten Tonfall.
»Ich nehme einen Whisky«, sagte ich. »Einen Bourbon, wenn Sie so etwas haben.«
»Wir haben Jack Daniels und Blanton’s.«
»Dann einen Blanton’s. Danke. Mit Eis.«
»Eine Bloody Mary«, bestellte Juliet erwartungsgemäß. Der Kellner riss sich nur mühsam von uns los und trottete davon. Dabei drehte er sich noch zweimal nach ihr um, ehe er aus unseren Augen verschwand.
Ich kehrte wieder zu den Berichtsformularen zurück. Einige erkannte ich vage von den Nachrichtenmeldungen, die ich am Vorabend auf Nickys PC gesehen hatte. Alfred Patterson wurde beschuldigt, einen völlig Fremden mit seiner eigenen Krawatte in einem Büro in der Uxbridge Road, wo er arbeitete, erwürgt zu haben. Die beiden Heffers, Vater und Sohn, hatten offenbar eine achtzig Jahre alte Frau vergewaltigt und ermordet und anschließend in den Regent’s Canal geworfen. Einige Fälle waren jedoch neu. Lily Montgomery wurde verhaftet und kam in Untersuchungshaft, nachdem die Polizei zu einem lauten häuslichen Streit gerufen worden war. Sie fanden sie auf dem Sofa sitzend vor, wo sie strickend neben ihrem toten Ehemann saß. Er war an seinem eigenen Blut erstickt,
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