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Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Titel: Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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angesichts ihrer legendären Verdrehtheit und der wenig reizvollen Aussicht, dass ich mich an Jenna-Jane Mulbridge wenden musste, um an sie heranzukommen, war vielleicht in diesem Moment der richtige Zeitpunkt gekommen, um zu Plan A zurückzukehren – nämlich mit Abbies Geist direkt Kontakt aufzunehmen. Ich hatte immer noch den Kopf der Puppe und eine lebhafte Erinnerung an die Melodie, zu der er mich inspiriert hatte.
    Zur Hölle, einen Versuch war es wert. Ich lenkte den Wagen auf einen breiten Streifen frischen Asphalts auf den steilen, abgeschrägten Ausläufern der Hammersmith-Überführung und stieg aus. Es war nicht so, dass der Empfang außerhalb des Wagens besser gewesen wäre. Ich hatte nur das Gefühl, dass ich den direkten Kontakt mit der kühlen Nachtluft brauchte.
    Ich schlenderte über die Straße zu einer Leitplanke, von der aus man einen ungehinderten Blick auf die nach Westen führende Fahrbahn hatte, und lehnte mich dagegen, um für einen Moment das Panorama zu betrachten, während ich mich in Stimmung brachte. Der Tag war ziemlich verrückt gewesen, und der Abend war sogar noch verrückter. Eigentlich hätte ich in diesem Moment innige Zwiesprache mit einer halbleeren Whiskyflasche halten sollen, aber hier war ich, hatte noch »weit zu wandern bis zum Ruh’n und hatte noch mein Teil zu tun«, wie es so schön in Robert Frosts berühmtem Wintergedicht hieß. Der dumpfe Schmerz in meinem Kopf und meinem Nacken war ebenfalls zurückgekehrt, und hinter meinen Augen spürte ich ein heißes Jucken. Ich hatte irgendetwas in den Knochen, und ich wünschte, ich hätte gewusst, was es war.
    Der schwache Geruch von Holzrauch lag in der Luft, als hätte jemand in einem der Gärten in der Nähe ein Feuer angezündet – eigentlich seltsam, so etwas im Mai zu tun, doch für einen kurzen Moment vermittelte es mir das Gefühl, in der Zeit vorauszueilen. So als wäre ich erst fünf Minuten dort gewesen und der Herbst wäre bereits angebrochen.
    Ich angelte den Puppenkopf aus meiner Manteltasche. Behutsam fuhr ich mit dem kleinen Finger an der Kinnlinie entlang und spürte den rauen Widerstand, wo der Lack erste Risse aufwies. Wenn man bedachte, was für einen Tag ich hinter mir hatte, war es ein Wunder, dass der Kopf immer noch in einem Stück war. Sobald ich ihn berührte, brandete Abbies Traurigkeit auf, strömte über meine Hand und wanderte mit Hilfe einer Art psychischen Kapillartransports an meinem Arm aufwärts, bis sie meinen Kopf ausfüllte. Das war wirklich alles, was ich brauchte. Nur eine Auffrischung, so dass ich genau wusste, was ich eigentlich wollte.
    Ich verstaute den Puppenkopf wieder und holte die Flöte heraus. Die kontrapunktischen Linien weißer Frontscheinwerfer und roter Rücklichter lenkten mich ein wenig ab, daher schloss ich die Augen, ertastete die Grifflöcher und ließ den ersten Ton in die Nacht flattern.
    Lange Zeit war da nichts. Nur die langsame, traurige Sequenz endlos absteigender Töne wie eine Treppe in einem Gemälde von M . C. Escher, die niemals dort endet, wohin sie führt.
    Dann antwortete Abbie mir. Wie bei den zwei vorangegangenen Gelegenheiten spürte ich ihre ferne Präsenz am Rand meines Wahrnehmungsfeldes – ein Tropismus, ein blindes Hinwenden zur Musik, die sie selbst war. Vielleicht weil meine Augen geschlossen waren, spürte ich es diesmal viel stärker, oder vielleicht haben Geister gezeitengleiche Rhythmen, die genauso auf sie einwirken wie der Mond auf das Meer. Sie war dort, weit entfernt, in der Dunkelheit, aber von mir durch nichts anderes als diese Entfernung getrennt. Es war, als könnte ich die Hand ausstrecken, die Stadt nach rechts und links wie einen Vorhang beiseiteschieben und sie zu mir heranziehen.
    Als es zur Trennung kam, erfolgte sie abrupt. Aber diesmal war ich bereit, und von einem Instinkt geleitet, den ich nicht hätte erklären können, steigerte ich die Musik zu einem Crescendo, sobald der Kontakt abbrach. Ich kann nicht sagen, ob das irgendeinen Unterschied machte, aber es fühlte sich an, als schleuderte man einen Speer, nachdem der Fisch sich selbst vom Haken befreit hatte. Die Vorstellung von einer Richtung, die ich bereits hatte, verdichtete sich zu etwas beinahe schmerzhaft Konkretem. Abbie und ich, Jäger und Gejagte, an beiden Enden aufgespießt vom selben Klangsplitter.
    Für lange Zeit, nachdem ich mein Spiel beendet hatte, hielt ich die Augen fest geschlossen und lauschte den Echos in meinem Geist. Sie waren immer noch

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