Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
deutlich wahrzunehmen. Diesmal war ich sehr nahe herangekommen, und ich hatte keinen Zweifel, dass Abbie mich nicht nur gehört, sondern auch gesehen hatte. Durch die Nacht, über die Stadt hinweg, hatten wir einander in die Augen geblickt.
»Ich komme zu dir«, murmelte ich. »Hab keine Angst. Ganz gleich, was du durchgemacht hast, kleines Mädchen, es ist fast vorbei. Ich suche und finde dich.«
»Wie reizend«, sagte die Stimme eines Mannes dicht neben mir. »Darf ich Sie zitieren?« Mein Kopf fuhr so heftig herum, dass er mir fast von den Schultern geflogen wäre – zumindest fühlte es sich so an. Der Schmerz schien stärker geworden zu sein und sich ausgebreitet zu haben.
Der Mann, der sich neben mir über die Leitplanke lehnte, hatte ein schmales Raubvogelgesicht, schwarzes Haar, so glatt wie ein Otterfell, und den säuerlichen, indignierten Gesichtsausdruck eines Richters für Kapitalverbrechen, der sich als Ermittlungsrichter an einem Samstagabend mit betrunkenen Hooligans befassen muss. Er hatte jene Art von Figur, die gern als drahtig bezeichnet wird – hager, aber so stramm wie ein Stock, der zu irgendeinem gefährlichen Zweck zugespitzt worden war, nicht wie etwas, dessen welkes Aussehen auf mangelhafte Ernährung zurückzuführen war. Sein weißer Regenmantel war makellos, und er bildete einen scharfen Kontrast zu dem schwarzen Anzug darunter, dass ich unwillkürlich an ein Priestergewand denken musste. Ja, das war er, kein Richter – ein Priester, der nach einer lückenhaften Beichte die Absolution verweigert. Deine Sünden wurden aufgeschrieben und als Beweis gegen dich verwendet.
»Felix Castor«, sagte er. Seine Stimme klang sanft und kultiviert und derart emotionslos, dass sie mich für einen Moment an die programmierte Stimme von Stephen Hawkings Vocoder erinnerte.
»Hey, ich auch«, antwortete ich und streckte ihm die Hand entgegen. »Das nenne ich wirklich einen Zufall.«
Er betrachtete für einen Moment meine Hand, dann schaute er demonstrativ weg. Schade. Ein Hautkontakt hätte mir vielleicht eine Menge verraten, und so etwas wie ein Spickzettel hätte mir in diesem Moment ganz gut weitergeholfen.
»Stets einen guten Witz auf den Lippen«, stellte er fest. »Nun ja, warum auch nicht? Lachen bereichert das Leben. Nein, Sie können mich Gwillam nennen, wenn Sie mich überhaupt irgendwie anreden wollen. Und mein Humor erstreckt sich vorwiegend auf Dinge, die Sie zum Weinen bringen würden.«
Bei dem blutlosen Gesicht und der ausdruckslosen Stimme war schwer zu glauben, dass er überhaupt Sinn für Humor hatte, aber ich spielte mit und nickte, als verstünde und akzeptierte ich es. Und auf gewisse Art und Weise akzeptierte ich es wirklich. Wenn einem jemand erzählte, wie taff er war, dann, so hat mich die Erfahrung gelehrt, spielte er einem etwas vor und hatte in Wirklichkeit die Persönlichkeit eines Puddings und wollte verhindern, dass man ihn auf Anhieb durchschaute. Zumindest hatte ich jetzt etwas, worauf ich aufbauen konnte.
»Dann erzählen
Sie
mir doch mal einen Witz«, schlug ich vor.
»Vielleicht.« Sein Blick sprang über meine Schulter, und ich wusste, ohne mich umdrehen zu müssen, dass er nicht allein gekommen war. Eine Sekunde später wurde diese Vermutung durch das Scharren einer Schuhsohle auf Kies ein paar Schritte hinter mir bestätigt. »Ich habe in den letzten beiden Tagen eine Menge über Sie in Erfahrung gebracht«, stellte Gwillam beinahe geistesabwesend fest. Er schaute wieder über den Verkehrsstrom hinweg und kniff die Augen zusammen, als ihm der rauchige Wind ins Gesicht wehte. »Sie haben sich so etwas wie einen Namen gemacht, und nach dem, was ich so höre, lautet dieser Name
nicht
›Trottel‹. Daher frage ich mich, warum genau Sie das alles tun.«
Seine Worte weckten die Erinnerung an eine frühere Unterhaltung, und ich hatte plötzlich eine Ahnung, wen ich zu Gesicht bekäme, wenn ich mich umdrehte und hinter mich schaute.
»Warum ich was genau tue?«, fragte ich und spielte den Ahnungslosen.
Gwillam runzelte die Stirn und atmete schnaubend aus, aber sein Tonfall veränderte sich keinen Deut. »Ich bin auch kein Trottel, Castor. Es hebt meine Laune kein bisschen, wenn Sie versuchen, mich trotzdem für dumm zu verkaufen.«
»Okay«, sagte ich. »Das werde ich mir merken.« Ich hatte selbst in meinen besten Zeiten noch nie die Geduld zum Angeln aufgebracht. Ich würde niemals stundenlang vor einem Eisloch sitzen, wenn ich stattdessen einfach eine
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