Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
aus wie das, was es einmal war – eine Reihe viktorianischer Arbeiterhäuser. Jahrhundertwende-Armut in geschmackvollem nostalgischem Gewand.
Nähert man sich dem Komplex, sieht man die direkt ins ursprüngliche Mauerwerk eingelassenen Gitterstäbe vor den Fenstern und den wuchtigen Anbau, der hinten in einem spitzen Winkel abzweigt und die alten Häuser zu erdrücken scheint. Wenn man ein Gespür für solche Dinge entwickelt hat, bemerkt man vielleicht auch noch die magischen Schutzvorrichtungen, die man neben dem Haupteingang angebracht hat, um die Toten abzuschrecken: einen Myrtenzweig für den Mai, einen nekromantischen Kreis mit den Worten
hoc fugere
– meide diesen Ort –, ein Kruzifix und eine kunstvolle, blau emaillierte Medusa. Auf die eine oder andere Art und Weise wird man aus einem viktorianischen Tagtraum in die unangenehme Gegenwart zurückgeholt.
Ich kam aus einer Nacht, die aufgeladen war mit frischen Regenmassen, die erst noch vom Himmel fallen mussten, und trat hinein auf dicken Teppich und in den fachmännisch konservierten Duft von Wildem Geißblatt. Aber das Stanger tut sich schwer, stets ein freundliches Gesicht zu zeigen. Schon als ich die zweite Tür öffnete und in die Lobby kam, konnte ich bereits von irgendwo weiter drinnen im Haus einen heftigen Tumult hören. Laute Stimmen, eine Frau – vielleicht auch ein Mann – weinte, Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen. Es wollte irgendwie nicht zu der beruhigenden Musik Vivaldis passen, die pianissimo aus der Lautsprecheranlage drang. Die Krankenschwester am Empfang, Helen, starrte in den Korridor und sah aus, als wollte sie am liebsten davonrennen. Sie fuhr herum, als sie mich hörte, und ich begrüßte sie mit einem Kopfnicken.
»Mister Castor!«, rief sie und erholte sich ein wenig von ihrem Schrecken. »Felix – er ist es. Asmodeus. Er ist …« Sie deutete in den Korridor, brachte aber kein weiteres Wort mehr über die Lippen.
»Ich höre es«, sagte ich knapp. »Ich gehe durch.«
Ich verfiel in leichten Trab, als ich den Hauptflur hinuntereilte. Dies war mein wöchentlicher Routinebesuch. Ich nannte ihn noch immer so, obwohl sich mittlerweile die Zeitspanne zwischen ihnen auf einen Monat oder mehr ausgedehnt hatte. Ich war durch das leicht elastische Band alter Schuld an diesen Ort gebunden, und ab und zu wurde der Zug zu beharrlich, um ihn ignorieren zu können. Aber heute würde es eine deutliche Abkehr von der Routine werden. Irgendetwas ging dort vor sich, und es war etwas Gewaltsames und Lautstarkes. Ich wollte auf keinen Fall auch nur in seine Nähe kommen, aber ich war für Rafi verantwortlich, und es war eindeutig mein Job, mich darum zu kümmern.
Rafis Zimmer befand sich im neuen Anbau. Manchmal dachte ich mit einem Anflug von Bitterkeit, dass Rafis Zimmer den gesamten Anbau finanziert hatte, denn es hatte ein mittleres Vermögen gekostet, die Wände, den Fußboden und die Decke mit Silber auskleiden zu lassen. Ich ging an den Stationen mit geringen Sicherheitsvorkehrungen vorbei und hörte aus jeder einzelnen von ihnen Weinen, Schreie und Flüche. Jedes laute Geräusch im Stanger erzeugt eine ganze Flut von Echos.
Als ich im Laufschritt um die Ecke bog, sah ich eine Schar Menschen etwa drei Meter von Rafis Tür entfernt, die anscheinend offen stand. Ich suchte Pen und sah sie daher als Erste. Sie rang mit zwei Krankenpflegern, einem Mann und einer Frau, und fluchte wie ein Kesselflicker. Wenn man Pen von vorn sah, wirkte sie immer viel größer, als sie tatsächlich war. Die Lebhaftigkeit ihrer grünen Augen und ihr rotes Haar vermittelten irgendwie den Eindruck imponierender Körpergröße, dabei maß sie in Wirklichkeit nur knapp über eins fünfzig. Die beiden Krankenpfleger hielten sie nicht richtig fest, sie versperrten ihr lediglich den Weg zur Tür und bewegten sich mit ihr, wenn sie versuchte, an ihnen vorbeizuschlüpfen – eine sehr wirkungsvolle menschliche Wand.
Der Rest der Szene glich einer Kneipenschlägerei, die nach Regeln ablief, die ich nicht kannte. Webb, der Direktor des Stanger Home, versuchte schwitzend und mit rot angelaufenem Gesicht, Pen festzuhalten und von der Tür wegzuziehen, bemühte sich jedoch gleichzeitig, nichts zu tun, was als Tätlichkeit ausgelegt werden könnte – und wurde jedes Mal, wenn er ihr zu nahe kam, von ihr weggestoßen. Das sich daraus ergebende Ballett aus flatternden Handbewegungen und unfreiwilligem Sich-Krümmen und Zurückweichen war überaus seltsam
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