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Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Titel: Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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lernten. Es war eine unglaubliche Zeit, eine Zeit, in der die Grundlagen eines neuen Wissenschaftszweigs mit einem Tempo festgelegt wurden, das jeden davon abhielt, die Richtung, in die sich alles entwickelte, infrage zu stellen, oder gar gefahrlos von dem Zug abzuspringen, sobald er sich in Bewegung gesetzt hatte.
    Den meisten von uns kamen im ersten Jahr Zweifel, was die Eignung Jenna-Janes betraf, aber wir blieben danach noch für eine ganze Weile an Bord. Es schien noch immer, als leisteten wir nützliche Arbeit, auch wenn wir für eine ichbesessene, aufgeblasene Faschistin tätig waren. Dann begannen wir nach und nach, das moralische Fazit zu ziehen und zu überprüfen, was am Ende herauskam. Ob es für den wissenschaftlichen Fortschritt oder für den Aufstieg von Jenna-Jane Mulbridge geschah. Einige der Dinge, die in der Praed Street stattfanden, gehörten in die Kategorien grausam und ungewöhnlich und weckten die Skrupel sogar der abgebrühtesten und konsequent einfallslosen Geisterjäger.
    Rosie Crucis war der Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte. Anfangs klang es völlig harmlos. Warum waren alle wiederauferstandenen Toten erst vor Kurzem verstorben, hatte Jenna-Jane gefragt. Ihre eigenen Recherchen hatten ergeben, dass kein Geist bekannt geworden war, dessen Todestag vor dem Jahr 1935 lag. Auf Grund von Aussagen anderer Exorzisten ließ sich die Datumsgrenze um zwanzig Jahre weiter zurückschieben, etwa bis in die Mitte des Ersten Weltkriegs. Was war mit den Millionen und Abermillionen von Geistern aus früheren Zeiten, die eigentlich die Straßen Londons wie eine unsichtbare Flut hätten füllen müssen?
    Sobald man anfängt, Fragen wie diese zu stellen, hat man plötzlich das Gefühl, dass man wenigstens eine halbe Antwort hören möchte, ehe man nachts wieder ruhig schlafen kann. Und für Jenna-Jane zählte in solchen Situationen immer nur das Prinzip des »Learning by Doing«. Sie trommelte ungefähr ein Dutzend von uns zusammen: mich, Elaine Vincent, Nemo Praxides und ein paar andere große Namen aus Edinburgh, Paris, Locarno und Gott weiß woher. Sie versammelte uns alle in einem Raum mit nichts darin außer zwölf Stühlen und einem Tisch, auf dem ein großer Pappkarton stand. Als alle eingetroffen waren, schloss sie die Türen ab und öffnete den Karton.
    Meine Vermutung lief auf einen abgetrennten Schädel hinaus, aber es zeigte sich, dass der Inhalt weitaus weniger dramatisch war. Der Karton enthielt eine Menge Dinge, die sehr alt waren, ohne besonders schön zu sein: ein mit kunstvollen Stickereien verzierter Fächer, dessen Farben mit zunehmendem Alter zu Braun- und Grautönen verblichen waren; ein handgeschriebenes Gebetbuch; eine farbige Glasflasche, die wahrscheinlich einst mit Parfüm gefüllt gewesen war; ein Taschentuch mit dem sorgfältig gestickten Buchstaben A in einer Ecke; eine einzelne Seite eines Briefs ohne Gruß oder Anrede.
    »Seht zu, was ihr tun könnt«, forderte Jenna-Jane uns auf. Und wir machten uns an die Arbeit.
    Praxides versetzte sich sofort in Trance, schloss die Augen und war weg vom Fenster. Elaine Vincent versuchte es mit automatischem Schreiben. Sie holte ihr Skizzenbuch heraus und begann zu kritzeln. Ich holte meine Tin Whistle hervor, ein anderer trommelte mit den Fingern einer Hand einen leisen, komplizierten Rhythmus auf die Innenfläche der anderen Hand. Wir alle taten das, was wir gewöhnlich taten, wenn wir einen Geist wecken oder binden wollten.
    Und dann erschien der Geist. Aber irgendetwas fühlte sich seltsam an. Die Spur, die er hinterließ, war zugleich stark und unendlich schwach. Es war, als ginge man an einem indischen Restaurant vorbei und erhaschte nur einen ganz schwachen Hauch von frischem Kardamom. Gleichzeitig weiß man jedoch, dass wenn man die Tür öffnet, die Sinne total überwältigt werden, und dass es nur der Duft des reinen Gewürzes ist, der durch das doppelte Mauerwerk des Gebäudes und das olfaktorische Spektrum der Straße zu einem gelangt.
    Wir bemühten uns zwei Stunden lang und wussten, dass unser professioneller Stolz auf dem Spiel stand. Zuerst bekamen wir den Geist nicht zu fassen, doch dann dachten wir uns ein paar Tricks aus, auf die wir niemals gekommen wären, wenn wir unabhängig voneinander an dieses Problem herangegangen wären. Der Typ mit den trommelfreudigen Fingern entwickelte einen speziellen Rhythmus zu meiner Melodie, und Elaine zeichnete die Klangmuster auf, die wir erzeugten. Wir verbanden unsere

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