Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
vor ein paar Monaten hatte ich zeitweise kein Instrument gehabt. Das fragliche Boot war eine schicke kleine Jacht namens
Mercedes
, aber wenn Sie an die Henley Regatta denken, liegen Sie ziemlich weit daneben. Eher sollten Sie sich das Wrack der
Hesperus
vorstellen. Oder vielleicht den
Fliegenden Holländer
.
Wie dem auch sei, infolge dieser kleinen Episode kaufte ich mir am Ende eine giftgrüne
Sweetone
, und sie war jetzt mein neues Standardinstrument. Sie sah ein wenig lächerlich aus und fühlte sich nicht so gut an wie meine alte
Original
, aber ich gewöhnte mich daran. Noch ein Jahr oder so und wir wären unzertrennlich.
Ich setzte die Flöte an die Lippen und blies G, C, A, um mich einzustimmen. Ich war mir bewusst, dass mittlerweile alle Augen im Raum auf mich gerichtet waren: die von Coldwood ausdruckslos, die meisten anderen mit sensationslüsternem Interesse – nur einer der uniformierten Polizisten konnte seine wachsende Nervosität nicht verbergen.
Das Problem bei dem, was ich zu tun beabsichtigte, war, dass es nicht immer funktionierte. Die Chance, dass es klappte, lag bei bestenfalls fünfzig-fünfzig.
Eine rationalistische Weltsicht wappnet einen dagegen, etwas zu sehen oder zu hören, was ihr widerspricht – wie zum Beispiel Meerjungfrauen oder fliegende Schweine oder Geister. Insgesamt betrachtet können zwei von drei Leuten einige der Toten sehen, aber auch das hängt sehr stark von der jeweiligen Stimmung und Situation ab, und in bestimmten Berufen sinkt dieser Anteil auf nahezu null. Polizisten und Wissenschaftler rangieren gewöhnlich am unteren Ende dieser Skala.
Ich wusste nicht, was ich spielen würde, ehe ich die ersten Töne blies. Es hätte nichts Besonderes sein müssen, lediglich das Skelett einer Melodie oder eine atonale Phrase mit einem groben Muster. Es entpuppte sich als eine Micah-Hinson-Nummer mit dem Titel: »The Day Texas Sank to the Bottom of the Sea«. Ich hatte Hinson bei einem Auftritt in einem Café in Hammersmith gesehen, und seine biegsame raue Stimme und der hämmernde, zwingende Rhythmus seiner Texte sprachen mich an. Aber auch ohne all dies gefiel mir der Song allein schon wegen seines Titels.
Anfangs tat sich anscheinend nichts, aber für mich würde sich ohnehin nichts verändern. Mit ein wenig Glück würde sich die Perspektive von Coldwoods Standort aus ein wenig verändern. Kurz bevor ich die zweite Strophe anstimmte, schnappte einer der Techniker am Schreibtisch hörbar nach Luft. Gut. Ein anderer rief etwas und deutete mit ausgestrecktem Arm, und ich wusste, dass die kleine eingängige Melodie ihre Wirkung entfaltet hatte.
Sie deuteten auf einen Mann, der sozusagen in der Luft stand, und zwar genau über dem Zentrum der Vertiefung, die die Falltür bedeckt hatte. Er war schon die ganze Zeit dort gewesen, für mich von dem Moment an deutlich zu sehen, als ich die Lagerhalle betreten hatte. Coldwoods Jungs hingegen waren an ihm vorbei- oder durch ihn hindurchgelaufen, ohne auch nur kurz zu erschauern oder ein Ave Maria zu murmeln, deshalb ging ich mit einiger Sicherheit davon aus, dass ich der Einzige war, der ihn sehen konnte.
Aber die Musik änderte all das. Diese Melodie – zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort, in diesem Tempo gespielt und so weiter – war für mich die Beschreibung des Geists.
Es ist ein spezielles Talent, das ich habe: die Toten nicht nur zu sehen, sondern sie mit einem Sinn wahrzunehmen, der zu neunzig Prozent Hören ist und zu zehn Prozent etwas, das ich nur
Anderes
nennen kann. Ich kann das Wesen eines Geists in Musik einfangen, und sobald ich ihn erfasst habe, gibt es andere Dinge, die ich mit ihm tun kann. Und wie ich vor Kurzem und ziemlich spektakulär festgestellt habe, ist eines davon, ihn auch für andere Leute sichtbar zu machen.
Nun holte die Musik diesen toten Mann in den Wahrnehmungsbereich Coldwoods und seiner Polizisten, und zwar dergestalt, dass sie sahen, wie Sheehans Geist sich aus jener sprichwörtlichen, allseits beliebten Substanz, dem Nichts, materialisierte. Die Polizisten glotzten, und die weiß bekittelten Männer rangen um ihre Beherrschung, als sie verfolgten, wie dieses Sinnbild von Aberglaube und Unvernunft vor ihren Augen Gestalt annahm. Coldwood war da um einiges pragmatischer eingestellt: Er ging sofort zu dem Geist hinüber und begann mit seiner Untersuchung. Der Geist starrte ihn mit traurigen, angstvollen Augen an.
Leslie Sheehan war noch nicht allzu lange tot, und er hatte noch nicht die Zeit
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