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Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Titel: Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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waren dunkler, weil nur durch das Fenster am anderen Ende Licht hereinfiel. Der Rest des Kirchenraums war formlose, schwarze Leere. Die grauen Steinplatten unter unseren Füßen verschwanden drei, vier Meter von dort entfernt, wo wir uns befanden, als stünden wir auf einem Felsvorsprung am oberen Rand einer hohen Klippe.
    Da sich in diesem Moment keiner von uns bewegte, nahm ich plötzlich einen Laut wahr. Er war sehr leise und tief, völlig anders als die murmelnden Echos, die unsere Schritte erzeugt hatten. Er stieg an und sank ab, stieg und sank während einer Zeitspanne von mehreren Sekunden und erstarb dann so langsam, dass ich mich am Ende fragte, ob ich mir das Ganze nicht nur eingebildet hatte.
    Ehe ich diese Frage beantworten konnte, setzte Juliet ihren Weg fort. Sie durchquerte das Mittelschiff, drang ins Dunkel der Kirche ein und kam wenige Sekunden später mit einer Kerze zurück. Wie sie hatte sehen können, wonach sie suchte, war mir schleierhaft.
    Die Kerze war schlicht und weiß, etwa zehn Zentimeter lang und lief am Dochtende spitz zu. Susan betrachtete sie mit einem Ausdruck strengen Missfallens. Juliet holte ein Feuerzeug aus der Hosentasche und hielt es über den Docht. »Das ist eine Votivkerze«, sagte Susan ein wenig vorwurfsvoll. »Man darf sie nur anzünden, wenn man ein Gebet spricht.«
    »Dann sprechen Sie eins«, schlug Juliet vor.
    Sie berührte mit dem Docht die Feuerzeugflamme, und nach einem kurzen Moment loderte er auf und brannte.
    Ich erwartete, dass sie uns durchs Mittelschiff zum Altar führen würde, aber sie hielt inne, wölbte eine Hand um die Kerzenflamme, um sie vor Zugluft von der offenen Tür hinter uns zu schützen. Aber die Luft war so still wie im Innern eines Sargs. Die Flamme brannte gerade und ohne zu zittern, und ein winziger Rauchfaden stieg senkrecht in die Höhe.
    Dann flackerte sie und erlosch beinahe. Sie schrumpfte, so weit man so etwas von einer Flamme sagen kann, und sank in sich zusammen. Es war, als würden Dunkelheit und Kälte sie verzehren, indem sie an dieser winzigen Wärme- und Lichtquelle saugten, um sie am Ende zum Verlöschen zu bringen. Als die Flamme vor diesem Ansturm klein beigab und sich zurückzog, kehrten die Schatten dunkler und noch undurchschaubarer zurück, und die Kälte nahm anscheinend zu. In der Totenstille hörte ich den Laut wieder: das zweimal an- und abschwellende, kehlige Murmeln knapp über meiner Hörgrenze.
    »Hast du das erwartet?«, fragte ich Juliet und ließ die um ihr Überleben kämpfende Kerzenflamme nicht aus den Augen.
    »Es war das Erste, das ich ausprobierte. Und das war das Zweite.« Sie deutete auf die Wand rechts von mir. Ich sah davor sechs würfelförmige Gebilde, die sich, als ich einen Schritt darauf zu machte, als schwarze Blumentöpfe aus Kunststoff entpuppten.
    In jedem Topf befand sich etwas Verdorrtes, Abgestorbenes. Blattlose Stängel; herabhängende, von der Kälte verbrannte Blüten; vertrocknete Wurzelknollen.
    »Die Kälte bewirkt so etwas«, meinte ich. »Dazu braucht man nichts Übernatürliches.«
    »Das stimmt«, gab Juliet zu. »Aber nicht in einem Zeitraum von fünf Minuten. Sieh auf deine Hand. Die Haut an deinem Handgelenk.«
    Ich gehorchte ihrer Aufforderung. Die Haut begann bereits, sich zu kräuseln und zu vertrocknen. Als ich mit dem Finger darüberstrich, verspürte ich einen dumpfen Schmerz.
    »Je länger du dich hier drin aufhältst, desto schlimmer wird es. Wenn du es lange genug aushältst, dann denke ich, dass …« Juliets Blick sprang zu den Blumentöpfen mit ihrem gefriergetrockneten, graugrünen Inhalt. Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Abermals erklang in der Pause, nachdem sie ihren Satz beendet hatte, ein tiefes Rumpeln in der Luft oder im Gestein oder in der Dunkelheit selbst, wurde lauter und leiser, stieg wieder an und fiel ab und verstummte schließlich ganz.
    »Was zum Teufel ist das?«, fragte ich. »Dieses Geräusch?«
    Juliet war offensichtlich überrascht. »Du meinst, du hast es nicht erkannt?«
    »Bis jetzt nicht.«
    »Es wird dir schon einfallen.«
    »Ja, ganz bestimmt«, sagte ich ein wenig pikiert. »Aber wahrscheinlich nicht, bevor ich völlig verwelkt bin und meine Blätter abwerfe.«
    Ich blies die Kerzenflamme aus, ehe sie von selbst erlosch, und ging zum Ausgang.

    Es sei während der Abendandacht geschehen, erzählte Susan Book, vorgestern.
    Saint Michael’s hatte keinen ständig anwesenden Geistlichen, und unter der Woche fanden keine

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