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Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Titel: Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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Gottesdienste statt. Die Kirche war nur an Samstagen und Sonntagen geöffnet, wenn Pater Ben Coombes von Hammersmith herüberkam, um Messen für eine Gemeinde abzuhalten, die nur noch halb so groß war wie zehn Jahre zuvor. Die restliche Zeit teilte Susan sich die Aufsicht mit einem Kirchendiener namens Patrick, der sich vorwiegend um die Grabpflege kümmerte und gelegentlich gebeten wurde, die Graffiti von den Kirchenmauern zu entfernen.
    Die Abendandacht war ihr Lieblingsgottesdienst. Sie liebte die Choräle, die stets mit »Lead us, Heavenly Father, lead us« begannen, und die Lobgesänge, die sie mit ihrer Schönheit manchmal zu Tränen rührten. Und sie liebte den Glanz der Kerzen, vor allem um diese Jahreszeit, wenn sie die Arbeit der Sonne übernahmen, sobald deren Licht verblasste. Wie das Licht des Geistes, der die Führung des fehlbaren, schuldbeladenen Fleisches übernimmt.
    Wir waren wieder zu den Grabsteinen zurückgekehrt und ließen uns nach der Mitternachtskälte der Kirche von den letzten roten Strahlen der untergehenden Sonne wärmen. Ich hatte es mir auf MICHAEL MACLEAN SCHMERZLICH VERMISSTER EHEMANN UND VATER mehr oder weniger gemütlich gemacht. Juliet thronte in stolzer Haltung auf ELAINE FARRAH - BEAUMONT , DIE UNS VIEL ZU FRÜH GENOMMEN WURDE . Und Susan saß zwischen uns im Gras, weil sie die Ruhe der teuren Dahingeschiedenen nicht stören wollte. Unter den gegebenen Umständen sah ich darin keine Geste hohler Sentimentalität. Ich nahm es auch nicht persönlich, dass ihr Blick ständig auf Juliets Gesicht gerichtet war.
    Etwa achtzig Leute seien in der Kirche gewesen, fuhr sie fort. »Ein volles Haus«, hatte der Pater scherzhaft gesagt, während Susan ihm in seine Gewänder geholfen hatte, »dann sollten wir ihnen auch eine gute Show bieten.« Er sprach im Wechsel mit den Versammelten die Fürbitten und las einen Psalm vor – so wie er es jede Woche tat. Sie hatten gerade den ersten der beiden Lobgesänge angestimmt; es war die
cantate domino
: »O sing unto the Lord a new song: for He hath done marvelous things …«
    Susan starrte auf den Boden, als die Erinnerung lebendig wurde.
    »In dem Lied ist eine Stelle«, murmelte sie, »da bittet der Chor das Meer und die Erde, ein freudiges Lied zu singen …« Ich erinnerte mich, als sie es erwähnte, und dachte ohne große Begeisterung an meine ziemlich konfuse religiöse Erziehung. Sie hatte für mich eigentlich nie irgendeinen Sinn ergeben. »Let the floods clap their hands?« Wie genau sollte das aussehen? »And let the hills be joyful.« Woran sollte man das erkennen?
    Aber Susan redete weiter, und ich verdrängte meine Verbitterung.
    Als Pater Coombes zu »Let the sea make a noise« kam, ertönte tatsächlich draußen, auf der Straße, ein Geräusch. Kreischende Bremsen, sehr laut, gefolgt vom Lärm eines Zusammenpralls, Knirschen von Metall gegen Metall oder gegen etwas anderes. Die Andacht war gestört. Sogar der Chor verstummte nach und nach, und alle Augen blickten zur Tür.
    Pater Coombes räusperte sich, und die Gemeinde schaute wieder nach vorn zum Altar. Er nickte dem Chor zu und erwartete, dass er dort weitermachte, wo er abgebrochen hatte. Aber obgleich die Sänger Luft holten und die Münder öffneten, brachten sie keinen Ton hervor.
    »Es wurde kalt«, sagte Susan, und ihre Stimme klang ein wenig brüchig. »Plötzlich und unvermittelt einfach nur … schrecklich, entsetzlich kalt. Ich hörte Leute seufzen, stöhnen, und jeder starrte jeden an oder sprang auf. Geschockt. Verängstigt. Verständnislos, weil es so schnell geschah. Und dann passierte etwas noch viel Schlimmeres.«
    Ich wartete, aber sie wollte anscheinend nicht weiterreden. Sie blickte zu Juliet, als brauchte sie ihre Aufforderung, auch noch den Rest zu schildern. Aber Juliet erwiderte den Blick nur auf ihre eigene undeutbare Art und Weise, bis Susan verlegen zu Boden schaute.
    »Etwas lachte über uns«, sagte sie.
    Es war so unpassend, so fehl am Platze, dass ich meinen Ohren nicht traute. »Lachte über …?«
    »Etwas lachte«, wiederholte Susan hartnäckig, in einem Ton, als müsste sie sich verteidigen. »Es kam von hoch oben, vom Dach, weit über unseren Köpfen. Und es war laut. Es war sehr, sehr laut. Es füllte die gesamte Kirche aus.« Sie warf mir einen Blick zu, ihre Miene entschlossen, als sei sie fest davon überzeugt, dass ich ihr nicht glaubte und annahm, sie würde lügen. »Aber ich kann den Klang nicht beschreiben. Ich kann nicht vermitteln,

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