Femme fatale: Der fünfte Fall für Bruno, Chef de Police (German Edition)
Halbschwestern hatten 1945, also gegen Kriegsende, ein Kind bekommen, die Komtesse eine Tochter mit Namen Françoise, die ihrerseits 1968 eine Tochter mit Namen Athénaïs zur Welt gebracht hatte. Gilles hatte also recht; die Tote war tatsächlich die Enkelin der Komtesse. Louis-Antoine, der Sohn der jüngeren Schwester, hatte einen Sohn gezeugt, der 1970 auf den Namen César getauft worden war. Bruno glaubte, dass dieser der Graf Vexin sein musste. Wer die Väter von Françoise und César waren, ließ sich dem Stammbaum nicht entnehmen.
Auf der Suche nach weiteren Informationen schlug Bruno die letzten Seiten auf, als er die Tür aufgehen hörte. Die Schwester der Roten Komtesse betrat die Bibliothek.
»Sie wollen mich sprechen?«, fragte sie kurz angebunden.
» Bonjour, Madame. Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Ich habe gerade Ihre wunderschöne alte Familienbibel bewundert.«
»Bitte, berühren Sie sie nicht. Die Seiten sind sehr spröde.«
»Verzeihung.« Er zog eine Kopie des Fotos in der Klarsichthülle hervor. »Würden Sie mir bitte bestätigen, dass diese Frau Ihre Nichte ist?«
Sie nahm das Foto, ging damit ans Fenster und setzte ihre Brille auf, die an einer Goldkette um ihren Hals hing.
»Was für ein sonderbarer Gesichtsausdruck«, kommentierte sie. »Ja, das ist meine Großnichte Françoise.«
»Könnte es sein, dass sie sich Athénaïs nennt?«
»Ihr vollständiger Name lautet Françoise-Athénaïs. Warum fragen Sie?«
»Ist sie das ebenfalls?«, fragte Bruno und zeigte ihr ein Foto, das die Gerichtsmedizin vom Gesicht der Toten gemacht hatte.
»Ich glaube, ja. Aber warum sind ihre Augen geschlossen?«
»Erinnern Sie sich nicht, dass ich Ihnen und Ihrem Personal vor zwei Tagen dasselbe Foto gezeigt habe? Sie sagten, die darauf abgebildete Frau nicht zu kennen.«
»Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Und meine Augen auch nicht. Françoise lebt in Amerika, und ich habe sie lange nicht gesehen.«
»War sie nicht vor kurzem hier im Schloss oder zumindest in Frankreich?«
»Ich sagte nein. Was hat das zu bedeuten?«
»Wir hatten eine Anfrage aus Kalifornien. Man will wissen, ob Ihre Großnichte nach Frankreich zurückgekehrt ist, und dazu brauche ich Ihre Stellungnahme. Mehr nicht. Ich habe das Formular dabei…«
»Dafür habe ich jetzt keine Zeit«, gab sie barsch zurück.
»Ganz wie Sie wünschen, Madame«, antwortete Bruno begütigend, holte das Formular hervor und begann, während sie sprach, hineinzukritzeln. »Ich notiere mir nur kurz, dass Sie Ihre Großnichte wiedererkannt haben und sie in Frankreich im vergangenen Monat nicht gesehen haben. Anschließend werde ich Ihnen das Formular zur Unterschrift vorlegen.«
»Sollte ich nicht lieber meinen Anwalt zu Rate ziehen? Oder meinen Enkel César?«, fragte sie nervös und schaute das Dienstmädchen an. Bruno bedankte sich im Stillen für die Bestätigung, dass der Graf tatsächlich ihr Enkel war.
»Wie Sie wünschen, Madame, aber es handelt sich um eine reine Formsache.« Er las ihr die Erklärung vor, die er formuliert hatte, und bat sie um eine Unterschrift, die sie ihm widerwillig gab.
»Wenn Ihr Enkel im Haus ist, würde ich ihm gern dieselbe Frage stellen«, sagte Bruno.
»Er ist zufällig das Wochenende über in der Gegend, aber nicht hier bei uns, sondern unterwegs mit Foucher und der Krankenschwester. Ich werde ihm sagen, dass Sie vorbeigeschaut haben.«
»Ich bitte darum. Und sagen Sie ihm, dass ich im Laufe des Tages anrufe, um ein Treffen mit ihm und den beiden anderen zu vereinbaren.«
Bruno setzte seine Mütze auf, tippte mit der Hand an den Mützenschirm und ging. Es hatte keinen Sinn, sie weiter zu bedrängen. Vielleicht hatte sie ihm die Wahrheit gesagt. Es war immerhin möglich, dass Athénaïs heimlich nach Hause zurückgekehrt und in den Kahn gestiegen war, um sich auf spektakuläre Weise das Leben zu nehmen. Die alte Dame wähnte sie womöglich immer noch in Kalifornien. Bruno war versucht, im Hof auf den Grafen, Foucher und Eugénie zu warten, machte sich aber dann doch auf den Weg zurück in die Stadt, weil er wegen Junots Tod noch Papierkram zu erledigen hatte. Außerdem wollte er mit Hector ausreiten und sich mit Gilles vom Paris Match zum Abendessen verabreden. Wieder im Büro, hatte er Punkt eins schnell erledigt. Danach las er die von Isabelle gemailten Berichte über den Grafen und seine Geschäftsbeziehungen und fand den von Lemontin geäußerten Betrugsverdacht
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