Femme Fatales
gesehen, einen Blick in die Zeitungen geworfen, und ab und an auch Bücher gelesen, in denen von mehr erzählt wurde, als davon, wie genau irgendeine Mademoiselle Danielle zu ihrem Traumprinzen Monsieur Pierre fand. Trotzdem war dieses Dunkle, Böse, das sie jetzt plötzlich überall zu sehen glaubte, seinerzeit seltsam blass und verschwommen geblieben.
Jetzt fragte sie sich, weshalb ihr nicht viel früher bewusst geworden war, dass sich jene düsteren Orte voll Brutalität, Hass, Vergessen und Folter eben nicht nur in weit entfernten exotischen Ländern und fremden Städten fanden, sondern genauso gut auch hier in Paris – diesem Herzen und Hafen der Zivilisation. Man brauchte nicht einmal wirklich danach zu suchen. Denn für jeden, der sie wahrzunehmen vermochte, lagen jene Orte offen zutage.
Gewalt, Verachtung, Terror, Angst und Tortur wirkten so fest in den bunten Teppich des Lebens der Stadt eingewoben, dass sie untrennbar damit verbunden waren. Wahrscheinlich war das auch immer schon so gewesen. Nur hatte Milena es eben genauso ignoriert, wie alle anderen Mitglieder ihrer Gesellschaftsklasse.
Da waren die Opfer der jugendlichen Schlägerbanden.
Da waren die Süchtigen, denen man statt Hilfe, nur noch einen weiteren Tritt in die Weichteile zuteil werden ließ.
Da waren die Vernachlässigten und an ihre Hospitalbetten gefesselten Alten.
Da waren die Wahnsinnigen und unheilbaren Kranken in ihren Zimmern und Zellen, die man mit Psychopharmaka jahre- und jahrzehntelang soweit ruhig stellte, bis sie hirn- und seelenlosem Gemüse glichen.
Da waren die alleingelassenen Lehrer in den Vorstädten. Und die Rechtlosen, in Viehställen gehaltenen Illegalen.
Da waren verzweifelte Polizisten, Notärzte und Feuerwehrleute. Und da waren all jene in Bussen, Büros, Diskos, Clubs und Schlafzimmern vergewaltigten, verbrannten und erschlagenen Mädchen und Frauen.
Und da waren zuletzt natürlich die Täter .
Manche darunter sicherlich nicht weniger elend und Mitleid erregend, als ihre Opfer. Aber doch nicht alle.
Zumindest ein Teil von Milena fand diese Ignoranz dem Elend gegenüber nur allzu verständlich. Womöglich ja sogar mehr als das - nicht nur nachvollziehbar und verständlich, sondern sogar notwendig . Diese Ignoranz war eine Hygienemaßnahme der Seele. Dazu gedacht, den überall lauernden Verfall in Wahnsinn, Angst und Ekel fern zu halten.
Milena hatte sich angepasst. Sie brachte es fertig nach Außen hin zu funktionieren. Sie bezweifelte, dass irgendwer im Büro die Veränderungen, die in ihr vorgegangen waren, registriert hatte. Höchstens wunderte man sich dort darüber, dass Milena seit dem Nationalfeiertag kein einziges Mal nach Büroschluss auf einen Drink oder zum Dinner ausgegangen war. Aber so oft hatte Milena dies auch vor ihrer Entführung ja gar nicht getan.
Sie musste die Migräneanfälle, die plötzlichen Bauch– und Gliederschmerzen bekämpfen, und zwar um jeden Preis. Bekam sie die nicht allein durch Willenstärke in den Griff, war es nur legitim sie Mithilfe von Pillen und Zäpfchen soweit herunter zu dimmen, um ihr zu erlauben zumindest nach außen hin zu funktionieren.
Diese Schmerzen waren wie Regimenter einer feindlichen Armee, die drohte eines Tages ihren Körper und ihr Denken vollständig zu okkupieren. Milena hatte sich dem zu widersetzen, falls ihr ihre geistige und körperliche Gesundheit irgendetwas bedeuteten.
Pillen und Arbeit halfen ihr zwar dabei. Doch die Nächte allein in ihrer Wohnung waren schrecklich. Ohne ihre Recherchen im Internet, ohne all die furchtbaren Bilder und Berichte, auf die sie dabei stieß, wären sie schlichtweg unerträglich gewesen.
Milena fuhr nicht mehr Metro, sondern ging, wann immer möglich, zu Fuß oder orderte ein Taxi. In der Metro war es zu dunkel für sie. Außerdem ertrug sie seit ihrer Zeit in der gepolsterten Zelle Menschenmengen nicht mehr.
Sie sah auch zu, dass sie stets lange vor Einbruch der Dämmerung das Büro verließ, selbst wenn die Erfüllung ihrer Pflichten das eigentlich nicht gestattete. Sie trug keine Schminke mehr. Sie hatte eine instinktive Abneigung gegen die Farbe Weiß entwickelt. Immer noch duschte sie drei bis vier Mal am Tag, manchmal auch öfter. Stets hatte sie jetzt eine Dose Pfefferspray bei sich.
Milenas Abteilung hatte kaum Anlass persönliche Kontakte zu anderen Abteilungen in der Zentrale der Versicherungsgesellschaft zu pflegen. Man schrieb Mails und Memos oder telefonierte, falls Sachverhalte mit
Weitere Kostenlose Bücher