Fenster zum Zoo
sich Kraft ein.
»Nicht Nelly. Das war nicht ihre Art. Sie war sehr zurückhaltend. Sie hat sich nie aufgespielt. Sie war eher eine Einzelgängerin, würde ich sagen.«
»Heutzutage nennt man das nicht teamfähig, nicht wahr?«
»Zurück zu Kaspar«, lenkte Meier ab und begab sich auf sicheres Terrain, »von einem auf den anderen Tag, praktisch über Nacht, war er aber wieder fit wie ein Turnschuh. Dafür hatte er plötzlich eine ganz neue Marotte: Er fraß keinen Honig mehr. Er tut es heute noch nicht. Und seit diesem Tag hört er auch nicht mehr auf seinen Namen. Er ist wie ausgewechselt.«
Als Muschalik ihn sagen hörte ausgewechselt, fiel bei ihm der Groschen, und er saß da wie vom Blitz getroffen. Meier musste es ihm angemerkt haben, denn er fragte besorgt: »Was haben Sie denn? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Auch Kraft schien nicht zu verstehen, er verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern.
»Nein. Nein … es wird eine Art Lagerkoller sein«, diagnostizierte Muschalik, der Zookenner, irritiert.
»Ja, die Gefangenschaft setzt ihnen doch zu. Mehr als man denkt.«
»Seit welchem Tag ist er denn wie ausgewechselt?«
Muschalik sprach das Wort vorsichtig aus, als könnte er kaum fassen, dass er es endlich gefunden hatte.
»Da müsste ich in seinem Pflegebuch nachsehen«, sagte Meier.
»Würden Sie das tun?«
»Moment bitte.«
»Lassen Sie sich Zeit.«
Muschalik gab Kraft ein Zeichen, Meier zu folgen. Er blieb gern für ein paar Minuten allein zurück, um seinen angefangenen Gedanken zu Ende bringen zu können. Ein abenteuerlicher Gedanke, der ihn in eine neue Richtung führte und zu einem Ziel, das er noch nicht recht kannte.
»Seit dem 19. Juli«, sagte Meier, als er zurückkam und sich wieder hinsetzte. Kraft blieb vor einer Urkunde in einem goldenen Rahmen stehen.
»Das mit dem Honig und seinem Namen ist ja nicht weiter schlimm«, beteuerte Meier, »wir sind froh, dass er über den Trennungsschmerz hinweg ist, das ist doch die Hauptsache.«
»Wo finden wir ihn?«, fragte Muschalik.
»Ich werde mitkommen.«
»Das ist nicht nötig. Sagen Sie uns nur, wo die Bärenanlage ist.«
* * *
Der Duisburger Grizzly drehte über den Felsen seine Runde. Plötzlich blieb er stehen, ging drei unbeholfene Schritte rückwärts und begann seine Flanke heftig an einem Baumstamm zu reiben, dabei grunzte er voller Wohlbehagen. Kaspars Fell hatte den gleichen mittelbraunen, fast ockerfarbenen Ton wie das Fell des Kölner Grizzly Jonny. Muschalik sah sich um und schrie plötzlich aus voller Kehle hinunter: »Jonny!«
»Warum brüllst du so?«, fragte Kraft erschrocken.
»Bären hören schlecht.«
Der Grizzly blieb abrupt stehen, stellte seinen kleinen Ohren auf und versuchte die Stimme zu orten.
»Jonny, Jonny!« Muschalik brüllte wieder seinen Namen.
Der Grizzly sah hoch und verzog die lange Nase.
»Warum rufst du ihn Jonny, wenn er doch Kaspar heißt?«, fragte Kraft verwirrt.
Muschalik brüllte und winkte, sprang auf und ab und tanzte am Gitter entlang.
»Und warum tanzt du hier herum?«
»Bären sehen schlecht.«
Endlich entdeckte der Grizzly ihn, einen kleinen Kopf, unerreichbar am Ende seines Reviers, der seinen Namen rief. Und er schien sich zu wundern. Und wenn Grizzlys sich wundern, dann stellen sie sich auf. Und Jonny stellte sich auf seine Hinterbeine und antwortete grollend.
Ein wachsamer Tierpfleger wurde ebenfalls durch den Lärm aufmerksam. Er kam zum Bärengehege gelaufen und sagte: »Er heißt Kaspar, wie Sie dort drüben auf dem Schild nachlesen könnten, wenn Sie sich die Mühe machen würden. Wie kommen Sie darauf, ihn Jonny zu rufen?« Er sah hinunter auf den aufgerichteten Grizzly und schüttelte den Kopf. »Sie machen ihn ganz konfus. Ich hab ja schon viel erlebt und bin einiges gewöhnt, was Zoobesuchern so einfällt. Aber das ist ja wohl das Dümmste von allem.«
»Warum rufst du ihn Jonny, wenn er Kaspar heißt?«, fragte Kraft wieder, als sie allein waren.
»Gegenfrage: Warum hört er auf Jonny?«
Kraft zuckte mit den Achseln.
»Weil dieser Grizzly hier unten genau seit dem 19. Juli keinen Honig mehr frisst. Der 19. Juli war Ben Krämers Todestag.«
»Ja, das weiß ich auch, und?« Kraft runzelte die Stirn. Nach einer längeren Denkpause fragte er langsam: »Und der Kölner Grizzly heißt Jonny?«
»Exakt. Du denkst mit. In der Nacht, in der Ben Krämer starb, war Nelly Luxem sehr wohl im Zoo und zwar um Jonny gegen Kaspar …«
»… zu tauschen.«
»Exakt.
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