Fenster zum Zoo
Er hatte Appetit und streckte seinen riesigen Schädel vorsichtig aus der Höhle. Er war über den Berg. Van Dörben hatte Muschalik sofort zugestimmt und mehrmaligen Ausgang am Tage genehmigt. Er war nicht der Meinung, dass der Grizzly der Mörder sei. Aber Vorsichtsmaßnahmen müssten eben sein, auch im Hinblick auf die Presse. Dr. Behlert war zufrieden mit den Fortschritten seines Patienten in Richtung Genesung. Immer noch warf der Tierarzt Muschalik seltsame Blicke zu, wenn sie sich trafen.
Als der Grizzly sich sogar einmal in sein Wasserbecken fallen ließ und sich dabei wohlig auf dem Rücken räkelte, sagte Muschalik erleichtert: »Nelly kann nicht weit sein.«
»Sie ist sicher nachts im Zoo, nicht wahr?«, fragte Kraft.
»Garantiert ist sie das. Und wir sind es ab sofort auch.«
»Warst du schon einmal nachts im Zoo?«
»Ja. Wenn du zu den Freunden des Kölner Zoo gehören würdest, wüsstest du, dass der Zoo einmal im Jahr eine Sommernacht veranstaltet.«
»Wahrscheinlich ein Volksfest, wie ich die Kölner kenne?«
»Ja, leider. Ich war noch nie ganz allein nachts im Zoo.«
»Keine Sorge, ich werde bei dir sein und auf dich aufpassen.«
»Das ist beruhigend. Wo ist eigentlich Nellys rotes Halstuch?«
»Im Präsidium.«
»Bring es mit.«
Van Dörben genehmigte den beiden Polizisten auch den nächtlichen Zutritt zum Zoo. Professor Nogge händigte ihnen einen Ersatzschlüssel aus und bat: »Bringen Sie die Sache zu Ende. Egal wie. Das Warten ist unerträglich. Und wenn Sie mich brauchen, klingeln Sie. Ich kann sowieso nicht mehr schlafen.«
Muschalik und Kraft schlugen sich zwei Nächte im Zoo um die Ohren, um Nelly auf die Schliche zu kommen, aber es gelang ihnen nicht. Sie musste ein gutes Versteck haben, in dem sie abwarten konnte, bis die beiden Polizisten ihren Wachposten aufgegeben hatten. Muschalik hatte ihr rotes Halstuch um die Höhlentür geschlungen, aber am nächsten Morgen war es immer noch da. In der zweiten Nacht schob er die Bärenfotos aus ihrem Zimmer durch die Höhlentür. Sie fehlten, als er später nachsah.
Aber die Nächte im Zoo entschädigten Muschalik und Kraft, und eine fremde, geheimnisvolle Welt eröffnete sich ihnen. Augen blinkten wie Lichter überall in der Dunkelheit, bernsteinfarben, grün und gelb. Da war ein Knirschen und Rascheln, ein Knacken und Krächzen, plötzlich ein undeutliches Tapsen, dann ein Kratzen, ein Flügelschlag. Von den Weihern drang das Quaken der Frösche, aus der Ferne das Heulen eines Wolfes, der Ruf einer Eule und dazu das Rascheln der Blätter im Wind. Der dumpfe Stoß gegen eine Holzplanke ganz in der Nähe, ein Rütteln am Käfiggitter aus der entgegengesetzten Richtung. Hier schlief niemand. Es schien, als erwachten die Tiere erst in der Nacht, wenn sie unter sich waren, als wäre das ihr eigentliches Leben. Die Tage nur ein langes, sehnsüchtiges Warten auf die Nacht. Im fahlen Licht der Straßenlaternen, das über den Gehegen hing, bewegten sich ihre schwarzen Schatten, versammelten sich und gingen wieder auseinander. Sie hatten einen Weg gefunden hatten, sich untereinander zu verständigen, sie hatten lange genug Zeit dazu gehabt, in ihrem Leben in Gefangenschaft. Sie waren darauf angewiesen. Es gab eine Sprache, die sie alle verstanden, unabhängig davon, ob sie Flügel oder Flossen, Schnäbel oder reißende Gebisse hatten.
Muschalik und Kraft hockten im Götterbaum gegenüber der Grizzly-Anlage.
»Wann machst du den Honigtest?«, fragte Kraft.
»Bald.«
»Psst.«
Sie hörten plötzlich ein Schaben. Es kam aus dem Busch hinter ihnen, ein glucksendes, röchelndes Geräusch, dann ein Flattern und Kratzen, und ein Pfau pickte unten am Stamm des Götterbaums. Er sah hoch, musterte die beiden kurz mit schräg gelegtem Kopf und stolzierte dann an ihnen vorbei.
»Puh«, machte Kraft, »ich dachte schon, der Tiger sei los.«
»Du bist ein Held.«
»Ja, das bin ich wirklich«, mühelos schaffte Kraft die Überleitung, »ich habe nämlich endlich mit Rosa gesprochen, und ich habe ihr zugehört, ganz so, wie du es mir geraten hast.«
»Wann?«
»Am Sonntag. Wir haben die Kinder vor dem Fernseher sitzen lassen und uns in die Küche verzogen. Sie hat mir alles gesagt, was sie mir schon immer sagen wollte.«
»Was denn?«
»Ich muss ein ziemlicher Versager sein, vielmehr gewesen sein. Den Rest behalte ich lieber für mich, du würdest es nur irgendwann gegen mich verwenden. Aber sie gibt mir eine Chance. Sie kündigt zum Schulanfang
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