Ferne Ufer
sich auf mich, um mich am Arm zu packen.
»Ich esse«, erklärte ich ungerührt. Dann machte ich meinen Arm frei und griff nach meinem Alebecher.
»Merde!« sagte sie. »Hat Ihnen heute morgen niemand das Frühstück gebracht?«
»Nein«, erwiderte ich. »Und auch kein Kleid.« Ich verwies auf die Decke, die mir zu entgleiten drohte.
»Nez de Cléopatre!« rief sie unwirsch. Sie richtete sich auf und warf zornige Blicke in die Runde. »Diesen Abschaum von einer Dienstmagd werde ich dafür auspeitschen lassen. Ich bitte tausendmal um Vergebung, Madame!«
»Ist schon gut«, entgegnete ich gnädig. Ich war mir der erstaunten Blicke bewußt, die auf mich gerichtet waren. »Das Frühstück war wirklich köstlich. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, meine Damen.« Ich erhob mich und versuchte, mich höflich zu verbeugen, während ich gleichzeitig die Decke umklammerte. »Nun, Madame… wie steht’s mit meinem Kleid?«
Während Madame Jeanne sich unentwegt entschuldigte und immer wieder die Hoffnung äußerte, ich würde es doch hoffentlich nicht notwendig finden, Monsieur Fraser zu erzählen, daß ich auf unziemliche Weise Bekanntschaft mit den hier arbeitenden Damen gemacht hatte, stieg ich zwei Treppen hoch und gelangte in ein kleines Zimmer, das mit verschiedenen halbfertigen Kleidern drapiert war.
»Einen Augenblick bitte«, sagte Madame Jeanne, verbeugte sich tief und ließ mich in Gesellschaft einer Schneiderpuppe zurück, deren Busen mit Stecknadeln gespickt war.
Offensichtlich wurden die Bewohnerinnen des Hauses hier eingekleidet. Die Decke hinter mir herschleifend, machte ich einen kleinen Rundgang durch das Zimmer und begutachtete mehrere hauchdünne seidene Negligés, einige kunstvolle Gewänder mit tiefem Ausschnitt und mehrere phantasievolle Variationen zum Thema Hemd und Mieder. Eins der Hemden nahm ich vom Bügel.
Es war aus feiner Baumwolle mit tiefem, gerüschtem Ausschnitt
und einer Stickerei in Form von mehreren Händen, die sich verführerisch um Busen und Taille schlangen und keck die Hüfte liebkosten. Bis auf den unteren Saum war es bereits fertiggestellt, und so bekleidet hatte ich viel mehr Bewegungsfreiheit als mit der Decke.
Im Nebenzimmer hörte ich Stimmen. Offenbar hielt Madame Jeanne Bruno eine Strafpredigt - zumindest vermutete ich, daß die dröhnende, männliche Stimme ihm gehörte.
»Mir ist gleich, was die Schwester des elenden Mädchens angestellt hat«, sagte sie, »ist dir nicht klar, daß Monsieur Frasers Gattin nackt und am Verhungern war…«
»Sind Sie sicher, daß sie seine Gattin ist?« fragte die tiefe männliche Stimme. »Ich hatte gehört…«
»Ich auch. Aber wenn er sagt, daß die Frau seine Gattin ist, dann will ich nicht mit ihm streiten, n’est-ce pas ?« Madame klang ungeduldig. »Und was diese elende Madeleine betrifft…«
»Sie kann nichts dafür«, fiel ihr Bruno ins Wort. »Haben Sie heute morgen nicht gehört, was passiert ist - über diesen Teufel?«
Madame keuchte entsetzt. »Nein! Nicht schon wieder eine?«
»Doch, Madame«, sagte Bruno erbittert. »Nur ein paar Häuser weiter - oberhalb der Green-Owl-Taverne. Das Mädchen war Madeleines Schwester. Der Priester hat noch vor dem Frühstück die Nachricht gebracht. Also verstehen Sie…«
»Ja, ich verstehe.« Madame stockte der Atem. »Ja, natürlich. Natürlich. War es - wieder dasselbe?« Ihre Stimme zitterte vor Ekel.
»Ja, Madame. Ein Beil oder ein großes Messer.« Er senkte die Stimme wie jemand, der etwas Grauenvolles zu berichten hat. »Der Priester hat mir gesagt, daß ihr Kopf ganz abgetrennt wurde. Die Leiche lag an der Tür ihres Zimmers und der Kopf…« - seine Stimme wurde fast zu einem Wispern - »ihr Kopf stand auf dem Kaminsims und starrte ins Zimmer. Der Wirt fiel in Ohnmacht, als er sie fand.«
Ein dumpfes Geräusch ließ vermuten, daß Madame Jeanne seinem Beispiel gefolgt war. Auch ich bekam weiche Knie. Allmählich verstand ich Jamies Befürchtung, daß es ein wenig unüberlegt war, mich in einem Bordell unterzubringen.
Da meine Blöße nun halbwegs bedeckt war, betrat ich das Nebenzimmer
- einen kleinen Salon -, wo Madame Jeanne auf einem Sofa lag und ein stämmiger Mann mit unglücklicher Miene zu ihren Füßen kauerte.
Als sie mich erblickte, schreckte sie hoch. »Madame Fraser! Oh, es tut mir so leid! Ich wollte Sie nicht warten lassen, aber ich habe soeben…« - sie zögerte, suchte nach einer feinfühligen Umschreibung - »eine
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