Fesseln der Erinnerung
Frau so ruhig neben einem Mann stehen konnte, der zweifellos ein Raubtier war. In San Francisco gab es für seine Zugehörigkeit nur zwei Optionen – und wenn man die für seine Körpergröße äußerst geschmeidige Art der Bewegung mit einbezog, blieb nur ein Schluss. „Sie gehören zu den DarkRiver-Leoparden?“
„Sie müssen neu in der Stadt sein“, sagte Talin und strich ihr Haar zurück, an einem Ohr glitzerte ein Ohrring aus unregelmäßig geformten Glasperlen in leuchtenden Herbstfarben. „Die meisten Leute erkennen Clay sofort.“
„Ich war schon öfter in San Francisco“, antwortete Sophia, die Form der Perlen und die Art, wie sie miteinander verbunden waren, faszinierte sie. Nichts Ebenmäßiges, nichts Perfektes. „Allerdings habe ich fast ausschließlich mit Menschen und Medialen zu tun.“ Wenn nur Gestaltwandler an einem Verbrechen beteiligt waren, fiel das in die Autorität ihres eigenen Volkes.
„Sophia ist J-Mediale“, sagte Max und lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen.
Er hatte die Ärmel seines leuchtend blauen Hemds aufgerollt, und ihr fielen die schlanken, muskulösen Unterarme auf und die Leichtigkeit, mit der er noch die kleinste Bewegung ausführte – der Mann war wie einer der stromlinienförmigen Wagen gebaut, die bei den emotionalen Gattungen so beliebt waren.
In diesem Moment trafen sich ihre Augen, und sein fragender Blick sagte ihr, dass jetzt irgendetwas von ihr erwartet wurde. Sie löste sich von dem Blick, der eigenartig nahe gewesen war, und trat zur Seite. „Ich werde Sie Ihrem Besuch überlassen, Detective Shannon. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wann wir anfangen können –“
„Meinetwegen sofort“, unterbrach er sie, immer noch lässig am Türrahmen lehnend. Wenn sie ihm nicht schon in Wyoming begegnet wäre, hätte sie ihn für „sicher“ gehalten. Aber sie hatte erlebt, wie er im Gefängnis war. Und sie hatte die Akte gelesen, in der seine sture und unerbittliche Jagd nach dem Schlächter der Park Avenue geschildert wurde. Unter der charmanten Oberfläche lauerte Gefahr.
„Dann werden wir jetzt gehen.“ Die Frau küsste Max auf die Wange, nahm Sophia kurz die Sicht auf ihn. „Aber ich hoffe, wir können zusammen essen“, sagte sie und drehte sich um, um Sophia verständlich zu machen, dass die Einladung auch für sie galt.
Max sah auf die Uhr, und Sophia ballte die Faust. Was Talin gerade getan hatte, dieser kurze Körperkontakt … war etwas ganz Normales. Menschliches. Und es hatte Sophia mit aller Brutalität gezeigt, welcher Graben zwischen ihr und dem Polizisten bestand, dessen Gegenwart und dessen aufmerksamer Blick das Feuer der Rebellion in ihr entfachten.
„Jetzt ist es fast drei“, sagte Max, seine Stimme war tief und weich – und rieb verstörend über Sophias Haut. „Wie wär’s mit Abendessen um sieben? Dann müssen wir sowieso eine Pause machen.“ Die Augen, die schon zu viel gesehen hatten, warfen ihr einen Blick zu. „Passt Ihnen das?“
„Ja, sehr schön.“ Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte, da sie sich doch von sozialen Kontakten fernhalten sollte. Ihre Reaktion auf Max zeigte, dass sie keineswegs eine perfekte Mediale war. Aber sie hatte auch keine Ähnlichkeit mit einem Menschen. Sehr wahrscheinlich war sie noch weniger menschlich als die meisten ihrer Brüder und Schwestern, denn sie war psychisch ausgelaugt durch die Bilder, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hatten.
Clay verabschiedete sich mit tiefer Stimme. Als das Paar ging, lag die Hand des Leoparden auf der Schulter seiner Gefährtin, und Sophia befand sich nun allein im Fokus der beinahe schwarzen Augen eines Mannes, der gewohnt war, Schilde niederzureißen und tief vergrabene Tatsachen aufzudecken. „Kommen Sie doch herein“, sagte er. „Es sei denn, Sie müssen noch etwas aus Ihrer Wohnung holen. Wir sollten die Einzelheiten durchsprechen, um herauszufinden, ob wir den gleichen Informationsstand haben.“
„Ist gut, ich werde meinen Organizer holen.“ Sie klang ganz ruhig, obwohl ihr Herz unregelmäßig schlug. „Bin gleich wieder zurück.“ Sie ging in ihr Apartment und griff nach der kleinen Tasche, die sie auf dem Wohnzimmertisch zurückgelassen hatte. Sie hätte gleich wieder gehen sollen, nahm sich aber die Zeit, tief durchzuatmen und ihre Schilde im Medialnet auf Risse zu überprüfen, die verraten könnten, dass sich schon so bald nach ihrer Rekonditionierung die ersten Anzeichen von Degeneration zeigten.
Nachdem sie
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