Fesseln der Erinnerung
bemerken, wie es wirklich um sie stand. Das hatte noch nie jemand getan. Selbst die M-Medialen nahmen nur die Risse in ihren telepathischen Schilden wahr – für sie war es nur ein einfaches psychisches Problem, das nichts mit den Narben zu tun hatte, die so tief in ihr saßen, dass niemand sie sehen konnte.
Ms Russo, ich muss noch einmal den Fall Valentine mit Ihnen durchgehen.
Sophia wartete. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, ihre wahren Gedanken und ihr wahres Selbst zu verbergen, um zu überleben.
Ihrem Bericht zufolge haben Sie in den Erinnerungen von Ms Valentine festgestellt, dass sie siebzehnmal auf ihren Mann eingestochen hat. Stimmt das?
Ja, Sir.
Ein Mord unter Menschen erforderte normalerweise nicht das Hinzuziehen einer J-Medialen, aber Ms Valentine war die Tochter einer einflussreichen Persönlichkeit, die einem großen Energiekonzern vorstand. Der alte Valentine hatte ebenso wie Max einen natürlichen Schutzschild – und hatte daraus rücksichtslos geschäftlich Vorteile gezogen, bis schließlich sogar Mediale ihn „nett“ behandelten.
Sophia hatte sich oft gefragt, warum der Rat ihn nicht still und heimlich hatte ermorden lassen, und schließlich den Schluss gezogen, der Mann müsse insgeheim Güter oder Dienstleistungen anbieten, die wertvoll genug waren, ihm Schutz zu bieten. Da Menschen von ihren Gefühlen geleitet und geprägt wurden, kamen sie oft auf erstaunlich einfallsreiche Ideen und Konzepte. Deshalb hatte Max Gerard Bonner auch dingfest machen können, als sich die medialen Fallanalytiker noch darüber stritten, welche psychologischen Parameter den Psychopathen ausmachten.
Wie viele Misshandlungen, meldete sich Jay Khanna jetzt erneut, vonseiten des Ehemanns haben Sie in den Tagen vor dem Mord wahrgenommen?
Sophia tat nicht so, als sei sie überrascht – ein Teil von ihr hatte auf diese Frage gewartet, seit sie der arroganten und schönen Emilie Valentine begegnet war. Keine, Sir.
Denken Sie gut nach, Ms Russo. Wir reden noch einmal miteinander, bevor der Fall vor Gericht kommt.
Sie ließ die mitschwingende Drohung aus ihrem Kopf verschwinden und überlegte, was sie Jay beim nächsten Mal antworten würde. Die Fähigkeit, Erinnerungen „zurechtzubiegen“, war das am besten gehütete Geheimnis des Dienstes. Jeder dachte, J-Mediale könnten nur wiedergeben, was im Kopf des Beschuldigten vor sich ging. In den meisten Fällen stimmte das auch.
Aber es gab eine Gruppe J-Medialer, die Erinnerungen manipulieren konnten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie konnten Bilder und Worte, Klänge und Handlungen so verändern, dass ein Stolpern zu einem absichtlichen Stoß wurde.
Sophia gehörte zu den Besten, schon als Kind war sie brillant gewesen. Denn sie hatte jede freie Minute damit verbracht, diese Fähigkeit zu schulen, da sie wusste, dass ihr Können einer der Gründe war, warum die Entscheidungsträger sie am Leben ließen, obwohl sie so zerstört war, dass nichts in ihrem Kopf noch einen Sinn ergab.
Niemand hatte je danach gefragt, und sie hatte es auch nie jemandem erzählt … aber ihre Seele war unwiderruflich zerstört. Sie hatte sich nie ganz von den schrecklichen Tagen erholt, in denen sie in der Berghütte gefangen gewesen war, hatte die Welt nie mehr so gesehen wie zuvor, als das Glas ihr Gesicht noch nicht zerschnitten hatte.
Max kam in dieser Nacht erst spät zur Ruhe, sein Körper vibrierte immer noch als Reaktion auf die kurze Berührung Sophias. Deshalb war er auch auf heftige Träume eingestellt … nicht aber auf deren Inhalt.
„Du kleines Stück Scheiße!“ Er wurde kräftig, sehr kräftig geschüttelt, und ein Schwall von Obszönitäten ergoss sich über ihn.
Er war starr, bemühte sich krampfhaft, nicht zu weinen. Er durfte nicht weinen. Das würde sie nur noch wütender machen.
„Genau wie dein Vater.“ Sie schrie ihm ins Gesicht. „Du elendes Stück Scheiße.“
„Tut mir leid“, sagte er, und dann konnte er sich nicht mehr beherrschen, seine Stimme brach.
Für einen ganz kurzen Moment wurde sie unnatürlich ruhig. Sie schrie nicht mehr und schüttelte ihn auch nicht weiter. Starrte ihn einfach nur an.
Da wusste er, dass sie ihm die Luft abdrehen wollte.
Max schlug die Augen auf und griff nach dem Elektroschockgerät unter seinem Kopfkissen. Er brauchte volle zwei Minuten, um festzustellen, dass die Gefahr sich nur in seinem Kopf befand. In der Erinnerung hatte sie ihn fast umgebracht. Ihm brach der Schweiß aus, und seine Haut war vor
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