Fesseln der Erinnerung
aus der Stirn und enthüllte die klaren, perfekten Gesichtszüge.
„Mediale sind geradezu besessen von Blutlinien“, sagte sie in Gedanken bei einer Vergangenheit, die bewiesen hatte, wie wahr diese Feststellung war. „Sie sind loyal, nicht genauso wie Menschen, aber auf eine gewisse Art doch.“ Im Vergleich mit der menschlichen Liebe war die Loyalität in Medialenfamilien eine rein praktische Angelegenheit. Und sehr von bestimmten Bedingungen abhängig.
Sophia hatte diese Bedingungen als Kind nicht erfüllt und die Loyalität ihrer Eltern verloren. Doch bei den Duncans schien sie sich erhalten zu haben, trotz der großen öffentlichen Aufmerksamkeit, die Saschas Abkehr vom Medialnet erregt hatte. „Die Ratsfrau könnte ihre Tochter geschützt haben, weil sie ihre Gene hat.“
Max lächelte freudlos. „Eigenartig – ich habe nie eine kältere Frau als Nikita getroffen. Und doch scheint sie eine bessere Mutter zu sein, als meine es je war.“
Er hatte ihr eine Tür geöffnet. Und der verlorene, schmerzhaft einsame Teil von ihr wollte so verzweifelt eintreten, dass sie Worte dafür fand. „Ihre Mutter hat versagt?“
„Sie hat mich gehasst“, sagte er in ernstem Ton, der ebenso in die Ferne gerichtet war wie sein Blick. „Abgrundtief. Ich weiß nicht, warum sie mich überhaupt ausgetragen hat, denn seit meiner Geburt hat sie nur noch versucht, mich zu töten.“
Sophia versuchte, in dem harten Polizisten das verletzliche Kind zu sehen, dass er einst gewesen sein musste. Es gelang ihr nicht. Aber sie begriff etwas, das „wirkliche“ Mediale eigentlich nicht begreifen sollten. „Das muss sehr wehgetan haben“, sagte sie und hoffte, damit die richtigen Worte gefunden zu haben, um sein Vertrauen nicht zu verlieren. Niemand hatte ihr je freiwillig solche intimen Dinge mitgeteilt. Das Herz wurde ihr eigenartig schwer dabei, sie spürte einen tiefen Schmerz in der Brust.
„Sie starb, als ich vierzehn war.“ Er sagte das ganz ruhig, aber seine Worte kratzten wie Sandpapier auf ihrer Haut. „Und das Schlimmste daran war, dass ich sie vermisste. Obwohl sie mich mehr als einmal in staatliche Obhut gegeben und mich schlimmer als einen Hund behandelt hat, wenn ich zu Hause war, vermisste ich sie.“ Ein Windstoß in seinem Haar brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Er blinzelte und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, warum ich Ihnen das alles erzähle.“
Das wusste sie auch nicht, schloss die Erinnerung daran aber wie einen Schatz in dem Teil von sich ein, den keine Rekonditionierung je erreicht oder gelöscht hatte. Alles in ihr wollte ihm etwas zurückgeben, ihm sagen, dass sie verstand, welchen Schmerz er erlitten hatte, aber Vertrauen war unbekanntes Terrain für sie, und sie scheute davor zurück. Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.
Und Max seufzte. „Muss an der Seeluft liegen. Sie weckt alte Erinnerungen.“ Er sah auf die Uhr. „Zeit fürs Abendessen.“
Das sich als ziemlich interessant herausstellte. Sophia, die J-Mediale, die Max’ Abwehr einfach unterlief, indem sie konzentriert zuhörte, verhielt sich weniger manieriert als andere Mediale, die er kennengelernt hatte, sie war zwar reserviert, beteiligte sich aber am Gespräch – das von Jon und Noor, den beiden Adoptivkindern von Clay und Talin, dominiert wurde.
Max’ beschützerische Instinkte beruhigten sich, als er sie alle so offensichtlich glücklich erlebte. Am meisten faszinierte ihn jedoch, dass Sophia das Krebsfleisch aß, das er ihr auf den Teller legte – sie selbst hatte sich nur Fischfilet in weißer Soße bestellt. Von ihrem Gesicht konnte man nicht ablesen, ob ihr die Krebse schmeckten, aber sie lehnte nichts von dem ab, was er ihr anbot. Und oft sah sie ihn an, als wollte sie etwas sagen, ihre Augen waren fast indigofarben.
Den gleichen Ausdruck hatten sie schon gehabt, als er ihr von seiner Mutter erzählt hatte. Noch nie hatte er mit jemandem darüber gesprochen – und es machte ihm verteufelt viel Angst, dass es ausgerechnet eine Frau, noch dazu eine Mediale, gewesen war. Er war versucht, sich zurückzuziehen, eine Wand zwischen ihnen zu errichten – aber sie war zu klug und zu aufmerksam, um nicht zu begreifen, was er ihr damit hatte sagen wollen – aber er hatte etwas versprochen.
Keine Spielchen.
Und Tatsache war auch, dass er trotz ihrer Fähigkeit, ihn so aus dem Takt zu bringen, keine Distanz zu Sophia Russo aufbauen wollte. Im Gegenteil, er wollte sie haben, den schönen Mund, die
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