Fesseln der Erinnerung
wusste er, dass seine J-Mediale das tat. „River ist mit elf verschwunden, ich war damals fast vierzehn. Zu diesem Zeitpunkt steckte er schon so tief in dem Drogensumpf, dass ich wusste, er würde nicht lange überleben … aber ein Teil von mir wacht jeden Morgen mit der Hoffnung auf, dass ich die Tür öffne und er davorsteht.“
Sophia bewegte sich auf seinem Schoß und legte ihre behandschuhte Hand vorsichtig auf seinen Nacken. „Entschuldige, Max. Ich wollte nicht in deine Erinnerungen eindringen.“
„Ich dachte, mein Schild – “
Sie schüttelte den Kopf. „Die meisten Telepathen mit angeborenen J-Fähigkeiten verfügen über latente, wenn auch nur geringe visionäre Fähigkeiten.“
Max runzelte die Stirn. „Hellsichtige sehen in die Zukunft.“
„Normalerweise schon. Eine kleine Gruppe von ihnen sieht aber in die Vergangenheit. Das nennt man Rücksicht.“
Er wusste, warum sie diesen beiläufigen Ton anschlug, sie hatte seinen Schmerz gesehen und wollte ihn davon ablenken – auf die einzige Art und Weise, die sie kannte, seine so empfindsame J-Mediale, die genau wusste, wie sehr Erinnerungen schmerzen konnten. „Du hast River in dieser Erinnerung gesehen.“
„Ja. Ich habe zum ersten Mal in die Vergangenheit gesehen.“ Ihre Augen blickten ein wenig ängstlich, als sie ihm auch die andere Hand um die Schulter legte. „Wenn die Statistik recht behält, wird es nicht wieder vorkommen.“
„Du scheinst froh darüber zu sein.“
„Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt“, flüsterte sie.
„Was hast du gesehen?“ Sein Herz zog sich zusammen – ihr Blick war nicht erschreckt gewesen, vielleicht hatte sie doch ein Stück Glück wahrgenommen.
„Du warst mit deinem Bruder in einer kleinen Straße. Wolltest ihm die Drogen ausreden.“
„Das habe ich oft versucht.“ Max senkte den Kopf. „Er war der Einzige, den ich geliebt habe, der mir etwas bedeutete. Doch ich konnte ihn nicht retten.“
„Er war sehr jung“, sagte Sophia.
„Und kaputt – er hat keinen anderen Ausweg mehr gesehen.“ Max wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen, seinen Bruder davon überzeugen, dass alles nicht seine Schuld war. „Er warf sich Dinge vor, die er gar nicht beeinflussen konnte.“
Sie strich ihm über den Nacken, sanft und zögernd, aber immer selbstbewusster. „Er sagte … sagte … “
Da wusste er, dass ihr das Schreckliche nicht entgangen war. „Was? Sag schon.“
„Er sagte, sie habe dich nicht beschützt.“
Der Schmerz des Kindes war wieder da. „Meine Mutter hatte zwei Persönlichkeiten.“ Für jeden Sohn eine andere. „Als Erwachsener wurde mir natürlich klar, dass nichts, was ich getan haben mochte, einen solchen Hass gerechtfertigt hätte – aber ein Teil von mir glaubt immer noch, dass ich irgendwie selbst schuld war, dass sie mich so behandelt hat. “ Seine Stimme brach weg.
Sophia hielt ihn umschlungen, und er spürte ihren Atem auf seinem Haar, eine Frau aus einem Volk ohne Gefühle brachte ihm mehr Zuneigung entgegen als die Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte.
21
Sascha hatte sich um sechs auf dem Bett zusammengerollt, sie war müde, obwohl sie nichts getan hatte. Doch sie spürte auch nicht das Bedürfnis, sich zu bewegen – es war schön, einfach so dazuliegen und den Duft des Panthers einzuatmen, der ihr Gefährte war. Sie wühlte sich in sein Kissen und öffnete das Buch, von dem sie sich Rat erhoffte – ein Buch, das eine endlose Quelle der Frustration war.
Nachdem sie mit einer Empathin der Vergessenen, einer älteren Frau namens Maya, gesprochen hatte, war in ihr wieder die Hoffnung erwacht, die versteckten Hinweise in einigen Kapiteln doch noch zu entschlüsseln.
„Nur Kardinalmediale können einen Aufstand aufhalten“, hatte Maya auf Saschas Frage geantwortet, dabei war die gepflegt aussehende Dame vor dem Bildschirm auf und ab gegangen. „Deshalb habe ich diese Fertigkeit nicht erlernen können, aber ich erinnere mich vage, dass meine Großmutter von einem ‚Anschlussfeld ‘ gesprochen hat.“
Maya war es zwar nicht gelungen, sich daran zu erinnern, welche Bedeutung der Begriff hatte, aber es war immerhin ein Anfang. Sascha wollte gerade noch einmal den Abschnitt über die Eindämmung von Aufständen lesen, als sie Lucas im Wohnzimmer hörte. „Lucas.“ Sie brauchte nicht laut zu rufen, er hörte sie auch so.
Kurz darauf stand er im Türrahmen, schwarzes glänzendes Haar und leuchtend grüne Augen. Ihr Gefährte war schön. Und
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