Fesseln der Erinnerung
ihn nicht aus den Augen.
„Du hast doch zu fressen bekommen“, murrte Max, der froh über prosaische Tätigkeiten war, die ihm einen Weg aus den Erinnerungen boten, die ihn über ein Jahrzehnt lang verfolgt hatten. „Mach mir bloß keine Vorwürfe, dass dir jetzt der Bauch wehtut, weil du es in einer Minute heruntergeschlungen hast.“
Morpheus leckte sich die Pfote. Er fand das nicht lustig.
Er würde den vermaledeiten Kater nicht streicheln und sich in die Hand beißen lassen, beschloss Max, kämmte sich das Haar und ging in die Küche. Dank des Großeinkaufs am Tag ihrer Ankunft hatte er alles, was er brauchte, um Sophia heute Abend zu bekochen.
„Sollten wir uns nicht auf den Fall konzentrieren?“, hatte sie ihn mit großen Augen gefragt, bevor sie seine Wohnung verlassen hatte. „Der Zwischenfall hat uns doch schon genug aufgehalten, wir sollten noch einmal die Beweise durchgehen.“
Ein warmes Gefühl breitete sich in seiner Brust aus, schon wieder versuchte sie, ihm auf ihre Art zu helfen – hatte in ihrer Klugheit begriffen, dass es ihm besser ging, wenn er sich mit Arbeit ablenkte. „Wir können beim Essen darüber reden“, hatte er gesagt. „Meiner Meinung nach bleibt uns genug Zeit.“
„Warum bist du da so sicher?“
„Erinnerst du dich an das Muster, von dem wir gesprochen haben?“
„Du meinst, dass die Opfer alle unmittelbar vor einem großen Geschäftsabschluss ermordet wurden?“ Sie sah ihn an. „Der Mord an Edward Chan passt aber nicht in dieses Schema.“
„Ich habe etwas tiefer geschürft.“ Er hatte sein Handy auf Internet-Recherche programmiert und sich die Ergebnisse nach dem letzten Verhör angeschaut. „Chan sollte Ende der Woche vor einer Gruppe von Gestaltwandler-Alphatieren in Südamerika einen Vortrag halten. Zum ersten Mal ist einem Medialen so etwas überhaupt zugestanden worden.“
Sophia dachte nach. „Wurde er umgebracht, weil er Nikita den Zugang zu einem bislang verschlossenen Markt verschaffen wollte – “
„ – oder weil dieser Kontakt gegen den Glauben an die Reinheit von Silentium verstieß?“ Nach dem, was er über die Makellosen Medialen wusste, würden sie auch vor einem Mord nicht zurückschrecken. „Schwer zu entscheiden. Aber ich werde Nikita anrufen und sie darauf aufmerksam machen.“
Nikita hatte seiner Theorie nicht nur zugestimmt, sie hatte ihm auch bestätigt, dass kein anderes Projekt momentan in einem Stadium war, das einen Mord voraussehen ließ. „Außerdem habe ich eine Rundum-Überwachung durch meine besten Leute angeordnet. Niemand kommt jetzt noch leicht an sie heran – und wenn einer von ihnen dahintersteckt, ist er jetzt gezwungen, eine Pause einzulegen.“
Bei den Vorbereitungen für das Abendessen überlegte Max, welche Auswirkungen wohl ihre Ermittlungen auf die Verschwörung haben würden. Keine bedeutenden, schloss er. Wer auch immer dahintersteckte – wer König in diesem Spiel war – , ging mit kühlem Kopf an die Sache heran und würde nicht aufgeben, nur weil eine J-Mediale am Ende ihrer Laufbahn und ein Mensch sich einmischten.
Er knirschte mit den Zähnen, und im selben Augenblick klingelte es an der Tür. Er legte das Messer, mit dem er die Kräuter gehackt hatte, aus der Hand und öffnete sie. Die Frau, um die sich seine Gedanken drehten, stand vor ihm in Jeans und einer zart porzellanfarbenen Strickjacke, am liebsten hätte er die Knöpfe geöffnet – um die nur einen Hauch dunklere Haut darunter zu sehen.
„Max?“ Sie klang zögernd, denn er versperrte ihr den Weg.
Er trat zurück, wartete, bis sie in der Wohnung und aus Sichtweite der Kameras war, bevor er seinem Bedürfnis nachgab, sie zu berühren. Mit einer Hand schob er ihr Haar ein wenig beiseite und küsste sie auf den Nacken.
Sie zitterte heftig, entzog sich ihm aber nicht. „Ich wusste nicht, ob ich auch etwas zum Essen beitragen sollte.“ Ihre Stimme klang heiser, und sie legte den Kopf ein wenig zur Seite, als sei ihr ein weiterer Kuss willkommen.
Er konnte nicht widerstehen, stellte sich ganz nah hinter sie und umfing ihre Hüften. „Du wirst der Nachtisch sein.“
Sophia wurde die Kehle eng, ihre Haut spannte zum Zerreißen. „Ist das ein Spiel?“, brachte sie schließlich heraus. „Wie mit den Zetteln?“
Max’ Atem strich heiß über ihren Nacken. „Nein.“
Sie ballte die Fäuste. Eine rein gefühlsmäßige Reaktion. Die sie beunruhigt hätte, bevor sie beschlossen hatte, zu leben … und zu lieben. Sie wusste nicht
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