Fesseln des Herzens
der Menschen auf dem Hof zu spüren. Seine Soldaten musterten ihn, ebenso die Mägde und sogar die Knechte, die eigentlich Besseres zu tun haben sollten.
Betet für mein Kind, hätte er ihnen am liebsten zugerufen. Wenn ihr schon eure Arbeit vernachlässigen wollt, dann tut wenigstens das.
Aber seine Lippen blieben stumm, bis er die Burg betrat.
Er war noch immer in seine Sorgen vertieft, als jemand um die Ecke schoss, die er gerade passieren wollte. Erst im zweiten Augenblick erkannte er Henry.
Dieser zuckte überrascht zurück und verbeugte sich. »Mylord!«
Ravencroft betrachtete ihn verwundert. Auf dem Gesicht des Hauptmanns lag ein Ausdruck, den der Baron zuvor noch nicht gesehen hatte. Er wirkte angespannt, ja beinahe wie von schlechtem Gewissen gequält.
Es wird an der Sorge um seinen Vater liegen, dachte er dann. Auch wenn es zwischen den beiden früher Streit gegeben hat, Blut ist letztlich doch dicker als Wasser.
»Willst du dich auf den Weg machen?«, fragte Ravencroft eingedenk seiner Zusage vom Morgen. Er hatte nicht vor, sie wegen Marys Erkrankung zurückzunehmen. Nur Aimee würde er Fellows nicht mitgeben können.
»Mit Eurer Erlaubnis, Mylord.«
»Die hast du selbstverständlich nach wie vor.« Der Baron legte Henry eine Hand auf die Schulter. Selbst durch das Wams meinte der Hauptmann sein Zittern zu spüren. Ravencroft wirkte noch nervöser als damals bei der Geburt seiner Tochter. »Geh zu deinem Vater und versöhne dich mit ihm. Vielleicht hilft es seinem Befinden, wenn er weiß, dass sein Sohn Frieden mit ihm schließen will.«
»Ich hoffe es, Mylord. Habt vielen Dank.«
Ravencroft nickte ihm kurz zu, dann setzte er seinen Weg fort.
Während Henry seinem Herrn nachsah, schlich sich ein Lächeln auf seine Züge. Es klappt besser als gedacht, ging es ihm durch den Sinn, dann legte er eine Hand auf den Schwertknauf und ging mit zügigen Schritten zum Stall.
Unruhig lief Nicole in ihrem Empfangsraum auf und ab. Es war ein kleines Gemach, das eigentlich dazu gedacht war, Gesandte zu empfangen, doch seit ihrer Niederkunft hatte die Baronin es nicht mehr aufgesucht.
Nachdem sie, wie ihr Gemahl es verlangt hatte, ihre Tochter besucht hatte, war sie unter dem Vorwand, für Mary beten zu wollen, in ihr Gemach zurückgekehrt. Die Mädchen, die ihr Gesellschaft leisteten, hatte sie fortgeschickt.
In ihrem Inneren brodelte es. Zum einen war es die Abneigung gegenüber ihrem Gemahl, die sich durch seinen Auftritt noch verstärkt hatte. Zum anderen spürte sie, dass die Stunde des Verrats nun gekommen war. Marys Krankheit machte vieles einfacher. Der Baron verkroch sich in seiner Kapelle und hatte für nichts anderes einen Blick. Seine Soldaten kampierten auf dem Hof, ohne dass er ihnen eine Aufgabe gegeben hätte. Sogar die Fechtübungen hatte er nicht fortgeführt.
Nicole war es gelungen, Henry eine kurze Nachricht zuzuspielen. Daraufhin hatte sie sich in diesen Raum begeben, wohl wissend, dass weder Celeste noch der Baron hier auftauchen würde, weil niemand sie hier vermutete.
Nachdem weitere schleppende Minuten vergangen waren, vernahm sie plötzlich Schritte vor der Tür, und ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Das musste Henry sein! Der Baron würde ganz gewiss nicht so leise sein.
Wenig später trat der Hauptmann ein, und Nicole flog ihm ungestüm entgegen, was ihn ein wenig verwunderte. Rasch schloss er die Tür hinter sich.
»Verzeih, dass ich erst jetzt komme«, entschuldigte er sich. »Ich bin unterwegs dem Baron begegnet. Glücklicherweise war er auf dem Weg zur Kinderstube.«
»Dann wird er sicher auch gleich mich aufsuchen wollen«, gab Nicole zurück und presste ihre Lippen fast schon verzweifelt auf Henrys Mund. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Ravencroft hat mir gestattet, meinen Vater zu besuchen«, berichtete der Leibwächter rasch. »Kurz bevor deine Dienerin gekommen ist. Er wollte mir schon Aimee mitgeben, damit sie meinen Vater heilt, aber das Glück war auf meiner Seite.«
»Das wird es auch weiterhin sein«, entgegnete Nicole, dann hob sie ihre Röcke und zog die Schriftrolle aus ihrem Strumpf. Seit dem Zusammensein mit Henry trug sie das Papier bei sich, in der Hoffnung, dass sich eine günstige Gelegenheit für seinen Ritt nach Woodward ergeben möge.
Dass es so schnell passieren würde, hätte sie sich nicht träumen lassen.
Der Anblick ihres Beins und des nackten Schenkels weckte sofort wieder ein heftiges Begehren in Henry. Sein Gemächt drängte
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