Fesseln des Herzens
die Stimmen des Barons und der Baronin zu vernehmen, doch sie drängte das Geräusch mit einem Kopfschütteln beiseite. Jetzt musste sie sich erst einmal um die kleine Baroness kümmern, da zählte nichts anderes.
Obwohl der Baron Nicole am gestrigen Tag nicht ein einziges Mal über den Weg gelaufen war, strebte er nun ihren Gemächern zu. Gewiss hatte Celeste ihr bereits Bescheid gegeben, genauso sicher war er, dass sie noch nicht bei ihrem Kind gewesen war. Wenn sie ihre Mutterpflichten mit Absicht verletzte, wollte er sie eben persönlich daran erinnern.
Als Ravencroft das Gemach der Baronin betrat, fand er sie am Fenster sitzend vor. Gedankenverloren schweifte ihr Blick nach draußen, während sie sich das Haar bürstete.
»Ich habe doch gesagt, ich sehe später nach ihr«, sagte Nicole, in der Annahme, dass es erneut Celeste war.
»Wie gnädig von dir!«, entgegnete Ravencroft spöttisch, während er spürte, wie der Zorn in seinem Herzen einem Unkraut gleich emporwuchs.
Seine Gemahlin fuhr augenblicklich von ihrem Stuhl auf.
»George!«, entfuhr es ihr. Gleichzeitig fiel ihr ein, dass sie ihren Mann schon lange nicht mehr beim Vornamen genannt hatte. Nicht einmal in ihren Gedanken.
»Ich komme soeben von unserer Tochter«, erklärte er. »Sie hat hohes Fieber. Aimee flößt ihr gerade Medizin ein.«
Bei der Erwähnung der Hebamme glitt unbeabsichtigt ein Lächeln über Nicoles Gesicht. Sie musste daran denken, wie entsetzt die Schäferin ihn vor zwei Nächten angesehen hatte.
»Welchen Grund hast du, so zu grinsen?«, fuhr er sie daraufhin an. »Ist dir das Schicksal deines Kindes etwa egal? Oder hast du den Verstand verloren?«
Augenblicklich erstarrte Nicoles Miene, und tiefer Hass wallte in ihr auf. Nur schwerlich konnte sie sich bezwingen, ihn nicht anzuschreien. Denk an deinen Plan, ging es ihr durch den Sinn. Wenn er erst einmal tot ist, wird dir nie wieder irgendwer Vorschriften machen.
»Nein, natürlich ist es das nicht«, beeilte sie sich zu sagen, denn sie fürchtete, dass er sie packen und ihr eine Ohrfeige versetzen würde. »Mir ging es nicht gut, also habe ich Celeste gesagt, dass ich später nach Mary sehen würde. Ich weiß doch, dass sie bei Aimee in guten Händen ist.«
Diese Antwort beschwichtigte Ravencroft allerdings nicht. »Du wirst dich gefälligst um dein Kind kümmern!«, schnauzte er wütend. »Die Kinderzeit ist für dich lange vorbei, das müsstest du inzwischen begriffen haben! Bete für Marys Leben, denn sollte sie sterben, wird dir eine weitere Geburt nicht erspart bleiben.«
Einen Moment lang starrte Ravencroft sie aus flammenden Augen an.
Nicoles Herz pochte ihr bis zum Hals. Ihr Gemahl wusste offenbar, dass dies ihre größte Furcht war.
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach sie daher, worauf sich Ravencroft endlich umwandte und den Raum verließ.
Als die Tür ins Schloss fiel, zuckte die Baronin zusammen, doch nach einigen panischen Herzschlägen fing sie sich wieder. Tief durchatmend lehnte sie sich an das Fenstergeviert, wobei ihr Blick auf den Hof fiel. Dass Henry genau in diesem Augenblick über das Pflaster eilte, sah sie als einen Wink des Schicksals an.
Der Tag verging schleppend. Die Nachricht, dass die Baroness erkrankt sei, verbreitete sich in Windeseile auf der Burg und schließlich auch im Dorf. Ravencrofts Untertanen fürchteten ebenso wie ihr Lehnsherr um das Wohlergehen seiner Erbin.
Der Baron verbrachte einen Großteil des Tages kniend vor dem Altar der Burgkapelle. Der Priester leistete ihm dabei zunächst Gesellschaft, aber nach einer Weile schickte Ravencroft ihn fort. Er hoffte, dass Gott ihn im Zwiegespräch eher erhören möge.
Wieder kam ihm der Tag von Marys Geburt in den Sinn. Damals hatte er ebenfalls hier gehockt und für das Leben seiner Gemahlin gebetet.
Meine Gemahlin, dachte er mit einem bitteren Nachhall in der Seele. Meine Gemahlin, die ihr eigenes Wohlbefinden über das ihrer Tochter stellt. Bevor dieser Gedanke sein Gebet vergiften konnte, drängte er ihn jedoch rasch beiseite.
Nachdem er noch eine Weile vor dem Kreuz gekniet und in das Antlitz des Heilands geblickt hatte, übermannte ihn eine plötzliche Unruhe. Ich muss nach der Kleinen sehen, ging es ihm durch den Sinn. Auch wenn ich Aimee vertraue, muss ich mich selbst vergewissern, wie es meinem Kind geht.
Er zog seinen Mantel enger um die Schultern und trat hinaus auf den Hof.
Obwohl er die Augen starr geradeaus gerichtet hatte, meinte er die Blicke
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