Fettnaepfchenfuehrer Frankreich
de France oder so was. In verschiedenen Farben, aber immer das gleiche Heft. Paula konnte es kaum fassen. Madame Autrand diktierte und diktierte und das gesamte Klassenzimmer schrieb mit. Es ging um irgendeinen Aufbau eines commentaire composé , eine komische Gliederung für die Analyse von Romanen. So viel konnte Paula verstehen. Aber eben nicht mitschreiben, das war einfach zu schnell. Und vor allem, wozu? Hat hier noch nie jemand etwas von Handouts gehört? Warum schrieb niemand einfach in Stichpunkten mit? Sondern – wie Paula vor und hinter sich unschwer erkennen konnte – wirklich Wort für Wort. Geschockt und verunsichert zog Paula ihren A4-Ringblock hervor und versuchte, wenigstens irgendetwas festzuhalten. Madame Autrand aber fuhr fort wie ein Wasserfall und Paula hatte Mühe, auch nur ein paar Fetzen zu verstehen. Als sie überhaupt nicht mehr folgen konnte und vollkommen außer Puste war, rief sie laut: » Madame Autrand, Madame Autrand! « Keine Reaktion. Paula unternahm einen zweiten Versuch. Und wieder keine Reaktion. Bis Juliana ihr ins Ohr flüsterte: » Essaie sans Autrand. « (Versuch’s mal ohne Autrand.) Und siehe da, kaum hatte Paula das erste Madame ausgesprochen, schoss die Lehrerin auf sie zu und fragte, wie sie helfen könne. So etwas Pingeliges aber auch, dachte sich Paula. Aber sie verkniff sich ihre Bemerkung und bat darum, eine Mitschrift zu bekommen. Madame Autrand verwies sie lautstark an Samantha, die Klassenbeste, von der sie sich die Mitschrift gern nach dem Unterricht kopieren könne. Na, prima, dachte Paula. Dann weiß es ja jetzt die ganze Klasse, dass ich hier kein Wort mitkriege. Supernummer! Nach dem Mitschreibmarathon war Paula absolut erledigt und enttäuscht. So hatte sie sich ihre erste Französischstunde wirklich nicht vorgestellt. Sie hoffte, den Rest der Stunde würde man vielleicht noch über das Diktierte sprechen, Meinungen dazu austauschen. Schließlich musste das Mündliche ja auch zählen und davon erhoffte sie sich so einiges. Und tatsächlich fragte Madame Autrand ihre Schüler, ob sie auch alles verstanden und notiert hätten. Also meldete sich Paula und sagte, dass sie gern über die verschiedenen Analysewege diskutieren würde. » Merci, Paula, mais nous ne discutons pas en classe. Vous pouvez faire ça entre vous pendant la pause. « (Danke, Paula, aber wir diskutieren nicht im Unterricht. Ihr könnt das gerne untereinander in der Pause machen.) Bitte was? Es würde keine Diskussionen geben? Gar keine? Aber das hier war doch Frankreich, das Land der schönen Worte, der erhitzten Denker und Hobbyphilosophen! Paula verstand die Welt nicht mehr und wollte nur noch eins: mit Juliana in die Kantine gehen und stundenlang über Kolumbien reden.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
DasSchulsystem in Frankreich ist grundsätzlich strenger und einheitlicher strukturiert als das deutsche. Es herrscht ein Frontalunterricht, der die Schüler zu größtmöglicher Konzentration und Disziplin anhalten soll. Dabei spielt die mündliche Beteiligung kaum eine Rolle. Dafür finden unzählige schriftliche Kontrollen statt, in denen das Mitgeschriebene Wort für Wort wiedergegeben werden soll und die am Ende die Gesamtnote eines Schülers ausmachen. Ein Ausgleich zwischen schriftlichen und mündlichen Leistungen ist daher nicht möglich. Im Französischunterricht gibt es beispielsweise verschiedene Formen der Textinterpretation, die einmal erlernt und dann schematisch auf jeden Text angewandt werden. Das commentaire composé , ein Analysemodell, das Paula diktiert bekam, ist dabei die gängigste Form. Hier wird jeder Text in drei Hauptteile untergliedert: introduction , développement und conclusion . Der Schüler muss seinen Gliederungsplan auch immer mit abgeben, denn die Methode, die »richtige« Annäherung an den Text, zählt mehr als die individuelle Interpretation und Deutung. Es steht also nicht die in Deutschland übliche Meinungsbildung und deren Äußerung im Vordergrund, sondern das objektive Abwiegen der Fakten, das am Ende eine ausgewogene Synthese ergeben soll. So benutzen französische Schüler nicht das je (ich), sondern das distanziertere nous (wir) oder on (man), wenn sie einen Textausschnitt betrachten oder ein Gedicht analysieren.
Paula kam nicht nur mit dem Mitschreiben kaum hinterher, sie hat auch noch den kleinen Fehler begangen, die Klassenlehrerin mit Madame und ihrem Nachnamen Autrand anzusprechen, so wie es in Deutschland üblich ist. In Frankreich
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