Fettnaepfchenfuehrer Italien
interessierte sie nicht, sie bemerkten ihn nicht einmal. Herr Weiss schaute zu den Erwachsenen am Nachbartisch: Auch sie hatten ihn nicht bemerkt. Die Kinder krakeelten weiter. Nachdem dann der erste Junge, der mit seinen Hampelmannsprüngen fertig war, vorschlug, Fangen zu spielen und ein Kind sich beim Vorbeirennen an Herrn Weiss‘ Tisch an seinem Stuhl festhielt, wurde es Paul Weiss zu bunt. »Herr Ober, das geht so nicht!« rief er dem Kellner auf Englisch zu.
»Was geht so nicht?« fragte der Ober, nachdem er an seinen Tisch geeilt war. Vermutlich sahen es Kellner nicht gerne, wenn jemand laut durchs Lokal rief, dass etwas nicht in Ordnung sei. Aber Herr Weiss musste ja die Kinder übertönen.
»Mir ist das hier zu laut! Haben Sie nicht noch einen anderen Tisch, vielleicht in einem Nebenzimmer?«
»Ich werde sehen, was ich tun… «Noch bevor der Kellner seinen Satz zu Ende gebracht hatte, mischte sich ein Mann vom Nachbartisch ein.
»Was haben Sie denn?« fragte er Herrn Weiss leicht gereizt. Sein Englisch klang italienisch, war aber gut verständlich.
»Mir ist das hier zu laut mit ihren Kindern. Das geht doch so nicht!« schimpfte Herr Weiss.
»Was soll hier nicht gehen? Wenn Sie es ruhig haben wollen, gehen Sie in die Kirche«, giftete der Mann zurück.
Der Ober versuchte, den Mann zu beruhigen.
»Mischen Sie sich nicht ein, das ist eine Sache zwischen uns beiden!« warf der Vater der Krachmacher ihm daraufhin entgegen.
Der Ober wusste nicht, was er tun sollte, und blieb einfach stehen wie eine Salzsäule. Inzwischen schaute nicht nur der Tisch mit den Erwachsenen auf Herrn Weiss, sondern fast das ganze Lokal.
»Der will unsere Kinder nicht spielen lassen!« rief der Vater.
»Aber ich wollte doch nur, dass es nicht so laut ist!« entgegnete Herr Weiss und merkte, dass er auf verlorenem Posten stand.
»Ach, stellen Sie sich nicht so an, Kinder sind nun mal laut. Und jetzt bestellen Sie ihr Essen«, sagte der Vater barsch. »Das ist ja wohl die Höhe!« Dann drehte er sich weg und wendete sich seiner Tischgesellschaft zu. Eine Frau schüttelte demonstrativ mit dem Kopf.
»Ich glaube, ich möchte woanders essen«, sagte Herr Weiss zu dem verdutzten Ober, nahm seine Jacke und ging schnell aus dem Lokal. Man wird doch wohl noch was sagen dürfen!
Was ist diesmal schief gelaufen?
Italiener sind kinderlieb, viel stärker als das in Deutschland der Fall ist. Das wird deutlich, wenn man mit einem kleinen Kind durch die Straßen geht. Wildfremde Menschen lächeln einen an, Kinder werden gestreichelt, manchmal bekommen sie sogar kleine Geschenke. Übrigens nicht nur von Frauen, auch Männer finden Gefallen am Nachwuchs, auch dem Fremden. Diese Kinderfreundlichkeit ist aber nur partiell: So findet man im öffentlichen Raum in Italien kaum einmal einen Spielplatz, die Betreuung von Kindern beruht weitgehend auf dem Einsatz von Familienmitgliedern, Kindergärten sind teuer und ein Hortsystem oft Mangelware.
Diese Kinderfreundlichkeit führt dazu, dass Eltern ihrem Kind jeden Wunsch von den Augen ablesen. Unmengen quietschebunter Spielzeuge werden gekauft, darunter oft auch kleine Plastikmobiltelefone, die munter lärmen, Wackelplüschfiguren, die schräge Lieder von sich geben, es blinkt und leuchtet und dröhnt zuweilen im Kinderzimmer.
Diese Kinderfreundlichkeit führt auch dazu, dass vielen Kindern wenig Grenzen gesetzt werden. Was für viele Deutsche schon an der Grenze zur Ungezogenheit und zur Belästigung liegt, wird von italienischen Eltern als lustiges Spiel oder Tollerei abgetan.
Diese Kinderfreundlichkeit führt aber nicht dazu, dass die Geburtenrate in Italien höher ist als in anderen Ländern Europas. Im Gegenteil: Mit 9,6 Geburten pro 1.000 Einwohner rangiert sie nur im Mittelfeld. In Deutschland, zum Vergleich, kommen pro 1.000 Einwohner 8,3 Kinder auf die Welt, zumindest war das im Jahr 2008 so, als die Statistik von der EU erhoben wurde. Im Europaschnitt sind es 10,4 Geburten, in Großbritannien kommen 13 Kinder und in Irland gar 18,1 Geburten auf 1.000 Einwohner.
Offenbar wirkt sich in Italien aus, dass junge Menschen es schwer haben, eine Arbeit zu finden, häufig lange, teils mehrjährige unbezahlte Praktika in Kauf nehmen müssen und auch danach ein geringes Gehalt bekommen. Die Unsicherheit, die daraus resultiert, ermuntert wohl nicht gerade, Nachwuchs in die Welt zu setzen.
Allerdings ist es trotz lärmender Kinder so, dass Werte wie Höflichkeit und Zuvorkommen bei Italienern
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