Fettnäpfchenführer Spanien - Wie man den Stier bei den Hörnern packt
»Für dich«, sagt Marisa, »von mir und Antonio«, und drückt ihr ein hübsches Päckchen in die Hand, das CD-Größe hat und bestimmt auch eine CD ist. Lena bedankt sich und legt das Geschenk zur Seite. »Ich werde die Geschenke dann später in Ruhe auspacken«, sagt sie. Jetzt muss sie ja erst noch alle anderen Gäste begrüßen.
Ihre drei Mitbewohnerinnen schleppen ein riesiges Paket mit roter Schleife an. »Ach, das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen«, sagt Lena und stellt es zu den anderen Geschenken ins Regal. Mikel ►, den sie vor Kurzem auf der Party einer Freundin kennengelernt hat, hat eine Schachtel Pralinen mitgebracht, hm, dabei mag sie gar keine Süßigkeiten. Und Trini, ihre Lehrerin aus der Sprachenschule, hat ein Päckchen aus der Konditorei dabei. Auch Süßigkeiten, in Papier gewickelt, verschnürt und mit einem Tragegriff versehen.
Über spanische Vornamen haben wir bereits an anderer Stelle gesprochen (siehe Kapitel 6). »Mikel« ist ein katalanischer Vorname, die spanische (kastilische) Form wäre »Miguel« [mi gel ]. Seit der Namensrechtsänderung von 1999 (siehe Kapitel 13) können spanische Vornamen von volljährigen Personen auch in die jeweilige katalanische, baskische oder galicische Variante rückübersetzt werden. Im Falle des Katalanischen wird dann José wieder zu Josep, Carlos zu Carles und Javier zu Xavier etc.
Lena stellt alles ins Regal, bedankt sich rundherum und bietet ihren Gästen Getränke an. Warum sind die denn plötzlich alle so ruhig? Ach so, sie kennen sich ja nicht alle untereinander, fällt es Lena ein. Aber sie kommen bestimmt bald miteinander ins Gespräch. Sie fragt jeden Einzelnen, was er oder sie trinken möchte, schenkt Wein aus und Bier und Wasser und Erfrischungsgetränke. Sie fordert ihre Gäste auf, bei den Knabbereien zuzugreifen. »Nur keine falsche Scheu, es gibt noch mehr«, sagt sie und deutet auf eine Kiste voller bunter Tüten und Tütchen.
»Hast du keinen champán «, fragt Mikel, »damit wir auf deinen Geburtstag anstoßen können?«. Champán? »Nein«, sagt Lena, »Sekt vertrage ich nicht, davon bekomme ich immer ganz schnell Kopfschmerzen.« »Dann müssen wir eben mit Wein anstoßen!« Mikel lässt sich nicht so leicht von seiner Idee abbringen. Lena füllt alle Gläser und dann singen alle zusammen ihr ein Geburtstagsständchen. Auf Spanisch hört sich das so an: Cumple-a-ños fe-liz, cumple-a-ños fe-liz, te de-se-a-mos to-dos, cumple-a-ños fe-liz. Mikel fragt, wie alt sie denn heute werde. »29«, sagt Lena. Daraufhin packt Mikel sie am Ohr und zieht daran: Uno, dos, tres, cuatro, ... 29 Mal! Alle anderen zählen laut mit. Lena weiß nicht so recht, wie sie das finden soll. Ist das nett oder macht man sich über sie lustig? Eigentlich tut es sogar ein bisschen weh. Hm, seltsame Sitten sind das. Alle klatschen begeistert, und Lena reibt sich das rot glühende Ohr und kühlt es mit ihrem Weinglas, so gut es eben geht.
Es bilden sich bald ein paar Grüppchen. Diejenigen, die sich kennen, sitzen zusammen, die anderen stellen sich gegenseitig selbst vor. Es wird wieder stiller in der Wohnung, ihre Gäste scheinen gar nicht so viel Hunger zu haben, die Schüsseln mit den Chips bleiben fast unberührt. Mikel erzählt Geschichten aus dem Krankenhaus, in dem er arbeitet. So richtig tolle Stimmung will einfach nicht aufkommen. Lena weiß nicht, was sie machen soll. Vielleicht mögen sich ihre Gäste einfach nicht so besonders. Als sich gegen 22 Uhr die ersten verabschieden, um zum Essen nach Hause zu gehen, ist Lena ein bisschen enttäuscht. Mikel schlägt vor, noch in die Bar an der Ecke zu gehen und Tapas zu essen. Okay, dann geht Lena eben mit.
»Wann machst du denn jetzt endlich deine Geschenke auf?«, fragt Mikel, bevor sie das Haus verlassen. »Na abends, wenn alle Gäste fort sind.«
»Ach so? Und dann weißt du noch, was du von wem bekommen hast?« Nanu, Lena versteht nicht, was jetzt das Problem ist. Gibt es denn ein Problem?
Dann ziehen sie zusammen los. In der Bar ist die Stimmung super, laute Musik, zu der die Leute sogar tanzen. Mikel schmeißt die erste Runde cañas und mit einem Mal verstehen sich alle ganz wunderbar. Die Spanier fühlen sich in der Bar anscheinend wohler als in einer Wohnung. Die Mädels aus Lenas WG tanzen Salsa und Mikel fragt Lena nach ihren Lieblings-Tapas. Da sie sich nicht zwischen calamares (Tintenfisch) und boquerones (Sardellen) entscheiden kann, bestellt er von beiden media ración ►.
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