Feuer der Götter: Roman (German Edition)
empfinden sollte oder gar als Auszeichnung, dass es während des Festes der Endenden Finsternis geschah – darüber würde sie noch einmal in Ruhe nachdenken müssen. Sie beschlich das Gefühl, sich tatsächlich mit diesem Kuss ganz und gar der Allmacht des Gott-Einen ausgeliefert zu haben. Und dass mit diesem Beginn der Höhepunkt und Abschluss der Zeremonie erreicht sein müsse.
So war es, wie sie feststellte, sobald sie wieder stand. Zoi winkte einer Priesterin, die aus dem Schatten der Tempelmauer trat, einen Kopfschmuck in den Händen. Weißer Stoff spannte sich um ein Drahtgestell, das im Gegensatz zu den üblichen Monden die Form einer schmalen, schön geschwungenen Sichel besaß. Zoi ergriff es und hob es über Naaves Kopf.
»Die Sichel ist der Mond am Beginn seines Daseins, so wie die Novizenschaft der Beginn des Daseins im Tempel ist. Du wirst sie ein Jahr tragen.«
Drei schmale, gebogene Bronzedrähte, die als Stütze dienten, gruben sich in Naaves Haar, als ihr Zoi die Mondsichel aufsetzte. Unwillkürlich hielt Naave den Kopf still, da sie befürchtete, der Kopfschmuck könne bei der kleinsten Bewegung kippen.
»Das hält schon«, winkte Zoi ab. Sie trat an Naaves Seite. Aus dem Inneren des Tempels kamen Priester und Priesterinnen, sie alle in weißen Festtagskleidern oder Schurzen; Halskragen und Armschmuck aus weißen und goldenen Perlen und mit weißen Federn verziert. Jeder trug den Mond seines Gottes auf dem Haupt. Nacheinander traten sie zu Naave und küssten sie auf die Stirn.
Naave fragte sich, wie der Dienst im Turm des Schwertgottes Xipe To aussah, oder gar bei Aqo, der Göttin der Liebe. Man würde von einer Novizin doch sicherlich nicht verlangen, in Aqos Turm das Gleiche zu tun, was Naaves Mutter hatte tun müssen?
»Ich werde dich jetzt auf die Opferbrücke bringen«, erklärte Zoi. »Der Hohe Priester hat seinen Wunsch, dass du schnell einen Menschen opfern sollst, zwar zurückgestellt, weil nicht die rechte Zeit dazu ist, aber er will, dass du ihm beim Festopfer zur Seite stehst. Und er rät dir eindringlich, dich weder zu zieren, noch zu zetern oder zu betteln.«
Naave nickte nur. Wie sollte man diese Frau auch um etwas anbetteln können? Er hatte schon gewusst, wen er schickte, um dafür zu sorgen, dass die aufmüpfige Tochter pflichtschuldig auf der Opferbrücke erschien. Würde sie es schaffen, der Opferzeremonie zuzusehen? Sie musste – wie sollte sie es auch verhindern? Sollte sie das Opfer von der Brücke stoßen? Sicherlich war der Mann ebenso betäubt wie alle anderen, und dann ertrank er, denn so stark wie Royia war er wohl kaum.
Während sie Zoi durch die verschlungenen Wege des Tempels in jenen Trakt folgte, der hinter dem Jadetor begann, dann die schmale Treppe hinauf in den Vorraum zur Opferbrücke, fragte sie sich, ob wohl jeder Priester solche Gedanken erwogen hatte. Nur um dann doch seine Pflicht zu tun. Wie auch sie ihre Tränen während des Festopfers zurückzudrängen gelernt hatte, damals als eine von vielen in der Menge. Die von Fackeln erhellte Nacht, die Geräusche des Festes, das Gebilde auf dem Kopf, das sie zu einer steifen Haltung zwang – all das ließ den Gang hierherauf noch unwirklicher als beim ersten Mal erscheinen. Durch die schmale Tür erblickte sie bereits das Opfer auf der Brücke; an ihrem Anfang standen zwei kleinere und an ihrem Ende ein gewaltiges bronzenes Becken mit brennendem Öl. Der Mann war ähnlich geschmückt wie zuvor Royia. Ähnlich wie alle Festopfer. Ein Waldmensch, wie sie sogleich an den schwarzen Haaren erkannte.
Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als sich ein Ungeheuer von der Seite näherte.
»Ruhig, liebe Tochter«, ihr Vater ergriff ihre Hand, und sie musste die andere auf ihr bebendes Herz legen. »Ich weiß, ich sehe bedrohlich aus. Wie fühlst du dich als frischgebackene Novizin? Der Sichelmond steht dir hervorragend.«
Er ließ sie los und trat an das Kupferbecken. Das Händewaschen vor dem Opfer … sie hatte es nicht vergessen. Auch nicht den jungen Priester mit seinem Tablett verschiedener Flüssigkeiten, ebenso das Tischchen, auf dem er sie abstellte, das Schwämmchen, das er mit ihnen tränkte und das er Tlepau Aq unter die Nase band.
»Ich denke, du wirst die Öldämpfe nicht brauchen, Naave«, sagte ihr Vater geschäftig. Er wirkte nervös, wanderte in seiner Axotverkleidung hierhin und dorthin, prüfte, ob auch alles saß. Es schien, als fürchte auch er sich vor dem Opfer, gleichgültig wie oft
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