Feuer der Götter: Roman (German Edition)
wenn du erwachsen wärest. Dass wir in den Tempel zurückkehren würden. Mit dir. Aufrecht und stolz wollte sie an deiner Seite vor Tlepau Aq treten, und sie machte sogar Scherze darüber, was denn wäre, würdest du in der Gosse überleben, er jedoch wäre gestorben, weil er die Tempeltreppe herunterfiel.«
Ihre Hand hielt inne, Naave zu streicheln. Ein tiefes Seufzen entrang sich Nanxi.
»Wir hätten ausharren sollen. Stattdessen habe ich … Der Eine möge mir beistehen! Es ist meine Schuld, dass alles anders kam.«
Von unten erklangen die gedämpften Stimmen der Mädchen, die sich wieder plappernd unterhielten, gelegentlich unterbrochen vom Tadel der Hausherrin. Von oben hörte man dumpfes Poltern und Schritte, wie überall im unterirdischen Teil des Grabens. Trotzdem fühlte sich Naave mit Nanxi allein auf der Welt. Gebannt wartete sie, während Nanxi unter ihr Kissen griff und eine Steinschale mit einem gelöcherten Deckel zutage förderte. Sie hob ihn und hielt sich die Schale unter die Nase. Der Duft verbrannter Cupalblätter erfüllte die Kammer. Nanxi wedelte sich den Rauch zu und atmete einige Male tief ein. Dann verschloss sie die Schale wieder, stellte sie neben sich und fuhr fort, über Naaves Kopf zu streichen.
»Matui verstand es, zu erdulden. Ich jedoch – ich konnte dieses Leben ertragen, aber nicht die Dummheit Tlepau Aqs. Ja, er hatte uns seine Beweggründe ausreichend dargelegt!« Ihre rauchige Stimme war voller Zorn, und sie ballte die freie Hand zur Faust, so dass sich ihre Knöchel hell abzeichneten. »Aber ich wollte das alles nicht einsehen. Ein Kind soll in der Gosse aufwachsen, um zu beweisen, dass es wert ist, seine Nachfolgerin zu werden – das ist doch nur die dumme Fantasie eines weltfremden Mannes!«
Naave fragte sich unwillkürlich, ob sie ihre aufbrausende Art nicht etwa von der Mutter geerbt, sondern von der Amme abgeschaut hatte.
»Inzwischen frage ich mich, ob er nicht recht hatte … Aber der Reihe nach. Ich schnappte mir dich und ging zum Tempel. Du warst sieben Jahre alt. Alt genug meiner Meinung nach, um bewiesen zu haben, dass du einen unbändigen Lebenswillen hast, den auch der Graben nicht dämpfen konnte. Matui wusste nichts davon; sie hätte mich aufgehalten. Sie wollte sich Tlepau Aqs Willen unterwerfen. Nun, sie hatte sein Bett geteilt; sie kannte ihn besser als ich!«
Nanxi schlug die Hände vor das Gesicht. Gequältes Schluchzen schüttelte den dürren Körper. Erschrocken setzte Naave sich neben sie auf das Bett und umschlang sie. Nanxi warf die Arme um ihre Schultern und zog sie fest an sich.
»Ich – ich kam gar nicht erst bis zu ihm«, sprach Nanxi stockend weiter, dicht an Naaves Ohr. »Er hatte die Wächter angewiesen, uns nicht zu ihm zu lassen, sollten wir vor der Zeit erscheinen. Ich habe ihn von weitem noch gesehen; er rief, die Männer sollten zusehen, dass ich verschwinde und nie wieder auf den Gedanken käme, im Tempel aufzutauchen. Sie sollten mit allen Mitteln dafür sorgen … Einer entriss dich mir und brachte dich fort …«
Ein Mann griff nach ihrer Hand. Ein großer Mann, so groß wie Tzozic. Sein Körper glänzte im Sonnenlicht von dem Schmucköl, mit dem sich manche ihre Muskeln einrieben. Eine furchterregende Waffe hing an seiner Seite: eine Art Holzlatte, die mit schwarzen Lavasteinsplittern besetzt war. Er zwang Naave, mit ihm zu laufen.
Sie versuchte sich loszureißen, weil sie sich vor diesen scharfen Splittern fürchtete und vor dem Lederpanzer auf seiner Brust, der wie ein Raubvogel mit ausgebreiteten Schwingen gearbeitet war. Aber der Mann hielt sie fest und sah sie von großer Höhe so böse an, dass sie es nicht noch einmal wagte.
Wenn er einen Schritt machte, machte sie drei, und sie musste rennen. Dann hob er sie auf den Arm. Das war noch schlimmer, denn sein breiter Mund war so nah, dass sie fürchtete, er werde ihn aufreißen und sie fressen. Über seine Schulter hinweg sah sie im Dunkel des Tempelportals einen hageren, weißgekleideten Mann stehen. Auf der Treppe lief Tante Nanxi hin und her und schrie, doch andere Männer verstellten ihr den Weg.
Auch Naave schrie und weinte. Sie weinte, bis ein Schlag auf den Hinterkopf sie verstummen ließ …
»Ich weiß«, sagte Naave unter Tränen. »Ich weiß es wieder. Irgendwie hatte ich gewusst, dass ich dich nie mehr wiedersehe.«
»Es hat mir das Herz zerrissen zu sehen, wie du zurückgebracht wurdest. Dich weinen zu hören. Der Platz vor dem Tempel ist so
Weitere Kostenlose Bücher