Feuer (Engelsfors-Trilogie) (German Edition)
Gewohnheiten und Routinen, die alltäglichen kleinen Geheimnisse, die ein Privatleben ausmachen.
56. Kapitel
A
nna-Karin erinnert sich dunkel an ein altes Sprichwort, das besagt, man solle seinen Feind kennenlernen, indem man in seinen Schuhen geht.
Bis jetzt ist es überraschend angenehm in Idas Schuhen. Überhaupt in ihrem Körper.
Auf dem Weg durch das Villenviertel versucht Anna-Karin, ein bisschen zu rennen, und sie hat das Gefühl, vorwärtszufliegen. Idas Körper ist so leicht und stark. Sie könnte endlos weiterrennen.
Ein paar Straßen weiter sieht sie Idas Haus und das letzte Stück bis zum Gartentor geht sie wieder langsam. Sie hört ihr eigenes Atmen. Sogar das klingt unbekannt.
Wie oft hat sie sich schon gefragt, was in diesem Haus vor sich geht. Hat überlegt, ob sich hinter der grünen Fassade dunkle Geheimnisse verbergen, die das Mysterium Ida Holmström erklären.
Anna-Karin geht zur Haustür. Sie hat vergessen, welchen Schlüssel sie nehmen muss, und während sie einen nach dem anderen ausprobiert, geht sie in Gedanken alle Punkte durch, die auf Idas Liste stehen. Der Vater heißt Anders, die Mutter Carina, die kleinen Geschwister Rasmus und Lotta. Idas Zimmer ist das erste neben der Treppe im Obergeschoss. Ihre Zahnbürste ist rot. Sie benutzt eine spezielle Hautpflegeserie, deren Namen Anna-Karin nicht aussprechen kann, und sie schläft immer mit BH , damit sie keinen Hängebusen bekommt, wenn sie alt wird.
Endlich hat Anna-Karin den richtigen Schlüssel gefunden und betritt die Diele. Sie hört Stimmen und Besteckgeklapper.
»Ida?«, ruft eine Frau.
Nichts ist im Weg, als Anna-Karin sich nach unten beugt, um die Stiefel auszuziehen. Als sie sich aufrichtet, staunt sie aufs Neue, wie anders Idas Körper ist. Er ist so viel … gehorsamer.
Ihr eigener Körper fühlt sich eher wie ein lästiges Anhängsel ihres Kopfes an. Eine unförmige Masse, die nötig ist, um sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Etwas, das man am besten unter etlichen Kleiderschichten versteckt.
»Ida?«, ruft die Frau noch einmal.
»Ja?«, antwortet Anna-Karin prüfend.
Es ist immer noch so ungewohnt, Idas Stimme auf diese Weise zu hören. Sie klingt dumpfer als sonst.
»Wir haben schon gegessen. Kommst du?«
Anna-Karin holt tief Luft und geht in die Küche.
Hier ist alles weiß. Sie hat das Gefühl, schmutzige Fingerabdrücke zu hinterlassen, sobald sie nur etwas streift. Alles wirkt kühl und teuer. Und die Familie, die am Küchentisch sitzt, vermittelt ungefähr denselben Eindruck.
Anna-Karin kennt Idas Eltern von früher und sie schienen ihr immer
zu
perfekt. Als hätte man sie gerade erst aus der Verpackung genommen. Die kleinen Geschwister sind Miniaturausgaben von Ida. Anna-Karin schaudert und ein schneller Zusammenschnitt der Klassiker unerfreulichster Kindheitserinnerungen zieht an ihrem inneren Auge vorbei. Sie fragt sich, ob Lotta und Rasmus ihrer Schwester womöglich nicht nur äußerlich ähneln.
Idas Vater schaut auf, und sie stellt überrascht fest, dass er verblüffende Ähnlichkeit mit Erik Forslund hat. Ein blonder Erik in den besten Jahren. Sie schaudert schon wieder.
»Was stehst du da rum und glotzt?«, sagt er.
»Deine Augen fallen dir gleich aus dem Schädel«, sagt Rasmus. Lotta und er prusten so übertrieben los, wie Kinder es manchmal tun, wenn sie nur lachen, um zu lachen.
»Rasmus«, mahnt Idas Mutter vorwurfsvoll.
»Aber du hast doch selbst gesagt, dass es so ist«, sagt Rasmus mürrisch. »Es gibt nämlich Hunde, die ihre Augen verlieren.«
Anna-Karin setzt sich an den leeren Platz. Idas Mutter schiebt ihr eine große Salatschüssel hin.
»Der Fisch steht auf dem Herd«, sagt sie.
Anna-Karin nimmt sich Salat und steht wieder auf, holt das dampfgegarte Fischfilet aus dem Topf.
Schon beim ersten Bissen spürt sie, wie hungrig Idas Körper ist. Und das Essen schmeckt unglaublich gut. Wie lange ist es eigentlich her, dass Anna-Karin das letzte Mal etwas frisch Gekochtes gegessen hat?
»Wie geht es dir?«, erkundigt sich Idas Mama.
Anna-Karin schluckt einen Bissen Fisch und schaut hoch.
»Gut?«, sagt sie.
Das war nicht die richtige Antwort, das erkennt sie an den Falten, die sich auf Carina Holmströms sonst so glatter Stirn bilden.
»Kinder, ihr könnt jetzt aufstehen«, sagt sie, ohne Anna-Karin aus den Augen zu lassen.
Rasmus und Lotta hüpfen bereitwillig von ihren Stühlen, poltern aus der Küche und verziehen sich nach oben.
»Aber Liebling, warum hast du
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