Feuer fuer den Grossen Drachen
niederstechen, und nun… Wenn er trotz allem noch immer so traditionsverhaftet war, was sollte dann später mal werden, wenn…? Ihr wurde siedendheiß. Wenn sie nun schon…? Sie haßte alle Chemie; sie hatte sich voll auf ihre Rechenkünste verlassen.
Sie wollte aus der Wohnung stürzen, fliehen, nach Jever fliehen, raus aus dieser Bruchbude, raus aus diesem Getto. Sie war schließlich Deutsche, Akademikerin, Volljuristin, Unternehmertochter; sie gehörte nicht hierher.
Doch sie ging nicht, denn Tugruls Mutter lud sie, so herzlich, wie es ihr nur möglich war, in diesem Augenblick zum Essen ein, erst Yayla Corbasi, das war Joghurtsuppe, dann das Lammfleisch.
Tuğrul kam mit seiner Übersetzung zu Ende. Wie Hanna später erfahren sollte, hatte sich Önal Bay bei Ayşes Rektor darüber beschwert, daß seine Tochter den Turnunterricht bei einem männlichen Lehrer erleiden müsse, in einem engen Trikot und ohne Kopftuch. Und weiter: Ich will nicht, daß meine Tochter am Sexualkundeunterricht teilnimmt. Wir 600 Millionen Moslems in aller Welt wollen nicht, daß Kinder wissen, wie Kinder auf die Welt kommen.
Hanna mußte sich daran erinnern, daß sie nicht als Tugruls Freundin hier war, sondern als Forscherin (ganz cool bleiben!), und sie hatte per Forschungsplan Monat für Monat dieselben Fragen an Herrn Önal zu richten, Panel nannte man das.
Doch sie schaffte es nicht, zu den Männern hinüberzugehen. Urängste schossen plötzlich hoch. Sie war verlockend, sie war die Fremde: Gleich würden alle über sie herfallen und sie vergewaltigen. Und dann ermorden. Da half kein Tuğrul, da half kein Happy. Später würden alle schweigen. Vermißt, spurlos verschwunden.
Diese Blicke. Düster, mißtrauisch, lauernd und aggressiv…
Sie mußte gegen ihre Bilder und Assoziationen ankämpfen. Seit sie Tuğrul kannte, hatte sie einiges über Sarazenen und Osmanen gelesen.
Otranto, Frühjahr 1480. Mohammed II. und seine Janitscharen erobern die Stadt. Graf Francesco Largo und der Erzbischof werden lebend zersägt, alle männlichen Bewohner über fünfzehn Jahre enthauptet, achttausend Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt – Nachschub für die Haremsgemächer und die Janitscharenkasernen.
Du aus dem KZ-Volk, du hast es gerade nötig!
Trotzdem. Es saß sehr tief.
Warum diese versteckten Blicke? Sie spürte es ganz deutlich: Die Türken hier, die wußten etwas, was sie nicht wissen sollte, und sie wollten sie so schnell wie möglich wieder loswerden – Tugruls Mutter einmal ausgenommen.
Vielleicht war das die Antwort: Sie wußten, wo dieser Niyazi steckte, Niyazi Turan, der aus dem Knast geflohen war und dann anschließend den Tabakwarenhändler in der Oranienstraße ermordet haben sollte, Meyerhoff, und der in der gestrigen Morgenpost auch als Theos mutmaßlicher Mörder namentlich genannt worden war. Möglicherweise war er hier in dieser Wohnung versteckt oder oben auf dem Dachboden, und man hielt sie für eine Schnüfflerin… Die Blicke schienen ihr immer bedrohlicher zu werden. Die Türken steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.
Es nahm ihr den Atem, sie mußte sich setzen.
Vor allem Muhat versetzte sie in Angst und Schrecken.
Muhat, der schon im Kreis der Männer sitzen durfte. Klein, dunkel, verschlossen, bedrohlich: Das war der ‹böse Mann›, vor dem Hanna eine ganze Kindheit lang gewarnt worden war…
Unsinn!
Doch was war ihr bißchen Rationalität gegen diese Flut archetypischer Ängste! Von Tuğrul wußte sie, daß Muhat schon einigen Grund hatte, frustriert zu sein. Zu Hause als großes Talent geltend, war er von einem deutschen Zweitligaverein eingekauft worden – um dort («Konditionsmängel; kein Spielverständnis!») alsbald auf der Ersatzbank zu versauern. Immerhin war der Boss so anständig gewesen, ihm in Berlin eine Lehrstelle als Betriebsschlosser zu verschaffen. Alle Tests bestanden, doch dann das Veto seines Vaters: Schlosser sei ein zu schlecht bezahlter und viel zu schmutziger Beruf. Es wurde gemunkelt, daß er in der Türkei bei einigen Bombenattentaten der Ultrarechten mitgemacht habe und ein Waffennarr sei. Muhat war Tugruls Cousin, wenn sie das richtig mitbekommen hatte, und zudem Mehmets Kumpel…
Hanna hatte keine Chance, hinter alle verwandtschaftlichen Verflechtungen der Önals zu kommen; nur die Angst, von einem riesigen Netz umschlossen zu werden. Frau Önal riß die Fenster auf, nur die schlechte Luft hier konnte schuld sein an Hannas Übelkeit. Als sie ihr dann
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