Feuer (German Edition)
die sie an sich zog, um sie umzugießen wie eine plastische Masse. Und so weit war sie entfernt von der gesuchten Harmonie, daß sie an einem Punkte gefühlt hatte, wie ihr freier Wille sie im Stich ließ, ihre Aufrichtigkeit sich trübte und wie eine dumpfe, gärende Empörung ihr Herz schwellte, und der Geist des gefürchteten Wahnsinnes wieder über sie kam. Dort auf den Kissen des Diwans im Schatten, war das nicht dieselbe Frau, die an einem Oktoberabend, als in ihren Adern das Gift brannte, zu ihrem Freund gesagt hatte, »Muß ich sterben?« War es nicht dieselbe Frau, die dort wie ein gehetztes Wild auf ihn zugesprungen war, als wollte sie ihn verschlingen?
Und wenn sie unter der unlauteren Brunst des Liebenden grausam gelitten hatte, waren die Qualen jetzt nicht noch wilder, da sie fühlte, daß die Glut sich gelegt hatte, daß an ihre Stelle bei dem Freunde eine gewisse Zurückhaltung und zuweilen fast eine Abneigung selbst gegen die zartesten Liebkosungen getreten war? Sie schämte sich, daß sie Kummer darüber empfand, als sie ihn nur von dem Gedanken beherrscht sah und alle seine Willenskräfte nur auf die geistige Anstrengung konzentriert. Aber an gewissen Abenden bemächtigte sich ihrer ein dumpfer Groll, wenn er sich verabschiedete; und unbegründeter Argwohn marterte in den Nächten ihre schlaflose Seele.
Sie gab dem nächtlichen Übel nach. Mit klopfendem Herzen und fiebernden Pulsen unter dem schützenden Dunkel des Gondeldaches streifte sie durch die Kanäle. Sie zögerte, bevor sie dem Ruderer den Namen eines entfernten Ufers angab. Sie wollte umkehren. Sie schluchzte herzbrechend über ihr Unglück; sie fühlte die Seelenqual ihre Kräfte übersteigen. Sie neigte sich hinunter zu dem todbringenden Zauber des Wassers; sie hielt Zwiesprache mit dem Tode. Dann überließ sie sich ihrem Elend. Sie spähte nach dem Hause des Freundes. Lange Stunden verbrachte sie in angstvoller und vergeblicher Erwartung. Es waren dies ihre herbsten Qualen an dem trostlosen Rio della Panada, der bei einer Brücke endigt, unter deren Bogen die Toteninsel von San Michele in der offenen Lagune sichtbar wird. Der alte gotische Palast an der Ecke von San Canciano glich einer schwebenden Ruine, die plötzlich auf sie stürzen und sie begraben müßte. Die schwarzen Pfähle faulten längs der morschen Mauern und strömten, von der Ebbe bloßgelegt, einen Verwesungsgeruch aus. Und einmal hörte sie beim Morgengrauen in dem Garten der Clarissen die Vöglein erwachen.
»Fortgehen!« Die Notwendigkeit zu handeln drängte sich ihr mit plötzlicher und zwingender Gewalt auf. An einem denkwürdigen Tage hatte sie schon einmal zu ihrem Freund gesagt: »Jetzt, scheint mir, bleibt mir nur ein einziges zu tun übrig: fortzugehen, zu verschwinden, dich deinem Schicksal überlassen Das vermag ich zu tun, was über die Liebe hinausgeht!« Und jetzt war ihr keine Frist mehr gegeben. Sie mußte dieser Unentschlossenheit ein Ende machen, sie mußte endlich heraustreten aus diesem verhängnisvollen Stillstand der Ereignisse, in dem sie seit so unendlich langer Zeit zwischen dem Leben und dem Tode schwankte, als wäre sie dort unten in jenes trübe und stumme Wasser gefallen, neben der Toteninsel, und kämpfte dort in Todesangst um ihr Leben, fühlend, daß der weiche Boden unter ihren Füßen nachgab, jeden Augenblick erwartend, verschlungen zu werden, und immer die gleichmäßige Ausdehnung der großen Stille vor Augen, und niemals ertrinkend.
In Wirklichkeit war nichts vorgefallen, fiel nichts vor. Seit jenem Morgengrauen im Oktober hatte sich an dem äußeren Leben nichts verändert. Kein Wort war gefallen, das ein Ende festsetzte, auf eine Unterbrechung hindeutete. Fast schien es, als sollte das süße Versprechen der Reise nach den Euganeischen Hügeln eingelöst werden, jetzt, da sich die Zeit der Pfirsichblüte nahte! Und dennoch fühlte sie in diesem Augenblick die absolute Unmöglichkeit, so weiter zu leben, wie sie lebte neben dem Geliebten. Das Gefühl war so bestimmt und so unwiderlegbar, wie das eines Menschen, der sich in einem brennenden Hause befindet, oder der im Gebirge am steilen Felsabhang nicht weiter kann, oder der in der Wüste aus seinem Schlauch den letzten Tropfen getrunken hat. Es war in ihr etwas Vollbrachtes, wie im Baum, der alle seine Früchte getragen hat, wie im Feld, das abgeerntet wurde, wie im Strom, der das Meer erreicht hat. Ihre innere Notwendigkeit war die Notwendigkeit der Naturereignisse, wie Ebbe
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