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Feuer um Mitternacht

Feuer um Mitternacht

Titel: Feuer um Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boy Lornsen
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Zentimeter, schätzte ich. Bei beiden hatte der unbekannte Hersteller einen Nagel als Spitze eingeschoben. Jeder — gleich ob Kind oder Erwachsener — konnte ohne Mühe einen solchen Rohrpfeil in kurzer Zeit zusammenbasteln. Das Material war überall zu finden. Für den Bogen zum Schießen nahm man einen biegsamen Weidenstock und ein Stück Bindfaden als Sehne — leicht zu beschaffen. Und Schilfhalme gab es in diesem Dorf übergenug.
    Der Pfeil vom 11.10., durch einen Klebezettel markiert, unterschied sich in einer Kleinigkeit von dem anderen: Ihm fehlte die Kerbe, die jeder Junge anschneidet, um seinem Pfeil die rechte Führung auf der Bogensehne zu geben. Zufall…?
    „Es könnte bedeuten, daß dieser Pfeil nicht von einem Bogen abgeschossen wurde.“
    „Könnte! Aber auch ohne Kerbe läßt sich ein Pfeil abschießen, wenn ein großes Hausdach ein Ziel ist, das man von der Straße aus kaum verfehlen kann.“
    Es war wohl zu früh, mit Kleinigkeiten herumzujonglieren, wenn man noch so wenig Überblick hatte wie ich.
    Ich nahm mir die beiden Karten vor, legte sie nebeneinander: Hähne mit aufgerissenen Schnäbeln und zwei gespreizten Schwanzfedern. So wie sie da auf ihren Papierrechtecken lagen, flockig rot, mit unscharfen Rändern, so etwa hatte ich den Kartoffeldruck aus meiner Schulzeit in Erinnerung.
    „Könnten Sie die Umrisse eines Hahns aus einer Kartoffel herausschnippeln?“
    „Bewahre!“
    Tackert legte seine beiden Hände auf den Tisch. „Ich? Mit meinen Kohlenschaufeln? Nicht mal in Wochen würde ich das fertigbringen!“
    „Kinder können es“, sagte ich.
    „Warum wollen Sie unbedingt auf Kinder hinaus!“ wandte Kollege Tackert knurrend ein. „Es gibt genügend Erwachsene mit geschickten Fingern. Sie waren auch mal Schulkinder. Oder sie könnten ihren Kindern zugeschaut haben.“ Ich nickte zustimmend, war aber nicht überzeugt.
    Die rechte Karte gehörte zu dem Pfeil ohne Kerbe. Dieser Hahn unterschied sich erheblich von seinem Nachbarn. Zwar war die Größe fast gleich, doch Hahn Nr. 2 zeigte plumpere, ja, ungeschicktere Umrisse und eine schmutzig-fleckige Rotfarbe.
    „Warum zwei verschiedene Hähne?“ Ich stellte die Frage gleichermaßen an mich wie an Tackert.
    „Meine Tochter hat sich mal darüber beklagt, daß Kartoffeln schnell austrocknen und dann als Druckstempel nichts mehr taugen“, sagte er. „Man muß eine neue Kartoffel zuschneiden, und damit wird der Druck ganz anders.“
    „So?“ sagte ich.
    Tackerts Erklärung hörte sich gut an. Aber... Warum druckte der unbekannte Drucker nicht mit der ersten Kartoffel genügend Karten auf Vorrat? Warum? Ein Drucker und zwei verschiedene Kartoffeln? Oder zwei verschiedene Drucker mit je einer Kartoffel? Ein Kind? Ein Erwachsener? Komisch, wenn man als Kriminalist über Kartoffeln nachdenken mußte...
    Jetzt wollte ich etwas über Markus Unschlitt erfahren. „Zu diesen Gerüchten, Herr Tackert. Was ist dran? Was können Sie mir über Markus Unschlitt berichten. Sie nannten den Namen...“
    „Ja, ich nannte ihn. Aber nicht gern.“ Tackert machte ein unglückliches Gesicht, und der Sessel ächzte unter seinem Gewicht, als er sich nach vorn beugte. „Sie wären ohnehin auf dieses Gerede gestoßen. Gerüchte, wie sie in jedem Dorf umlaufen, wenn — wenn solche Dinge passieren. Ich glaube nicht daran. Dieser Junge, der Markus, hat einen schweren Schock erlitten: Vor einem halben Jahr nahm sich sein Vater das Leben! Seitdem ist der Junge völlig umgekrempelt, wird nicht damit fertig. Die Mutter übrigens auch nicht. Sie kränkelt, zieht sich vom Leben zurück, soviel ich weiß. Und aus all dem machen die Leute dann...“
    „Von Anfang an“, bat ich.
    Er sah mich unbehaglich an und begann: „Ich kenne sie alle, die hier im Dorf herumrennen und größer werden. Markus Unschlitt ist nur einer von ihnen. Er wurde noch in der Kinderkarre ausgefahren, als man mich nach Tarrafal versetzte. Er ist mit meiner Sylvie in einem Alter — ein Vierteljahr älter. Sie besuchen nicht die gleiche Klasse; Sylvie kam ein Jahr später zur Schule. Man sieht die Kinder heranwachsen, spricht mit der Mutter, tätschelt die Kleinen. Sobald sie laufen und krähen können, schwärmen sie aus, strolchen überall herum, und man stolpert an allen Ecken über sie. Man droht mit dem Finger; man bellt sie auch mal an. Aber ich glaube nicht, daß ich in meiner grünen Uniform jemals ein Schreckgespenst für die Kinder war. Ich wollte auch keins sein — das hätte

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