Feuer und Eis
geachtetes Mitglied der Anwaltskammer. Karin trug die besten Kleider, besuchte die besten Schulen. Es waren die Wochenenden, vor denen sie sich fürchtete.
Die Wochenenden, an denen ihre Eltern „so richtig einen draufmachten“. Wochenenden, an denen sie alles tat, um Emily von dem Treiben der Erwachsenen abzulenken und zu beschützen.
„Verklemmt“ nannte ihre Mutter sie immer. Und Karin wusste, dass das zutraf. Deshalb hatte sie eines Tages, als Emily bei einer Freundin übernachtete, versucht mitzufeiern. Gerade einmal sechzehn Jahre alt, erlag sie dem Charme eines älteren Schauspielers. Dass er sie ansprach, machte sie verlegen und schmeichelte ihr zugleich. Schüchtern klammerte sie sich an ihren Fruchtsaft und wünschte inständig, ihr würden schöngeistige Antworten einfallen, mit denen sie auch ihn beeindrucken konnte.
Der Altweibersommer in diesem Jahr war ungewöhnlich heiß, weshalb Karin irgendwann nach draußen schlenderte, um sich abzukühlen. Das Lachen ihrer Mutter zog sie in diese Richtung.
Und dann sah sie ihre Mutter, die barbusig im Pool einen anderen Mann küsste.
Der Anblick entsetzte sie. Interessanterweise dachte sie zu allererst an ihren Vater. Sie musste ihn beschützen, es würde ihm das Herz brechen. Und dann entdeckte sie ihn.
Ihr Vater massierte die Brüste einer anderen Frau, während er seine eigene beobachtete. In diesem Moment glaubte Karin, der Himmel stürze über ihr ein, so unvermittelt traf sie die Erkenntnis über das wahre Ausmaß der Verderbtheit ihrer Familie.
„Hey“, säuselte der ältere Schauspieler ihr unvermittelt ins Ohr. Noch heute erinnerte sie sich an die unglaubliche Erleichterung, als er ihren Kopf an seine Brust drückte und so die schreckliche Szene ihrem Blick entzog. „Ist schon okay.“
„Nein, ist es nicht!“, wollte sie schreien und ihre Mutter an den Haaren aus dem Pool zerren. Trotzdem ließ sie zu, dass der Mann sie zurück ins Haus und nach oben führte. Erst auf der Treppe bemerkte sie, wie betrunken sie wirklich war. Ihre Beine gehorchten kaum noch ihrem Willen, in ihrem Kopf drehte sich alles. Aber das schien dem älteren Schauspieler nichts auszumachen …
Karin brachte es nicht über sich, an das zu denken, was danach passiert war. Stattdessen versuchte sie sich die positiven Aspekte der Sache in Erinnerung zu rufen – falls sie es so nennen wollte. Denn anschließend hatte sie bei ihrer ausnahmsweise schuldbewussten Mutter durchgesetzt, dass Emily ab sofort ein Internat besuchte. Nur so, glaubte sie, konnte sie ihre acht Jahre jüngere Schwester beschützen.
Natürlich wurde das eigentliche Problem dadurch nicht gelöst. Wie jedes Mädchen in diesem Alter, wollte Emily ihre Freundinnen in den Ferien nach Hause einladen, was Karin jeweils durch eine Reise zu verhindern wusste. Ostern in Rom, Sommer an den Stränden Frankreichs, Weihnachten in der Schweiz.
Wenn man ein Wallis war, bestand das Leben augenscheinlich aus einer einzigen Party.
Die Klatschpresse stürzte sich auf die Tatsache, dass Karin nur in den kalten verschneiten Bergen richtig glücklich wirkte – was auf eine verquere Weise sogar stimmte. Fern ab von London und ihrer verdorbenen Familie, wenn es nur sie gab, Emily und die schneebedeckten Berge, dann hatte sie eine Weile all den Schmutz vergessen können. Es war ihre Flucht.
Manchmal eine gefährliche, aber immer noch besser als das Chaos daheim.
So wie der Abend mit Xante.
Am nächsten Morgen tat Xante sein Bestes, nicht an den vergangenen Abend zu denken. Er kämpfte sich aus dem Bett, duschte und ging dann zum Frühstück nach unten. Die Rose lag wieder sicher in ihrer Vitrine, wo sie hingehörte.
Als er die Zeitung aufschlug, um über die Katastrophen des vergangenen Tages zu lesen, fiel sein Blick auf ein Foto von ihm und Karin. Es zeigte den keuschen Abschiedskuss, den er ihr gestern vor dem Hotel gegeben hatte. Irgendwie kam es ihm wie eine Ironie des Schicksals vor, dass nach allem, was er im Leben erreicht hatte, ein kurzer Kuss mit Karin Wallis genügte, um ihn auf Seite zwei zu katapultieren.
Auch im Verlauf der Woche unternahm er alles, um nicht an sie zu denken. Und vielleicht wäre ihm das auch gelungen, wenn nicht immer wieder Spieler des englischen Teams nach ihr gefragt und ihm erzählt hätten, wie bezaubernd sie war. Ja, vielleicht wäre es ihm dennoch gelungen, hätte seine Assistentin ihn nicht angerufen, um mit ihm über eine sehr exklusive Einladung zu sprechen, die für ihn und
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