Feuer und Eis
bereitete Xante großen Spaß. Im Gegensatz zu ihm wirkte Karin äußerst angespannt. Oh, sie war die Höflichkeit in Person, sagte nie ein falsches Wort, doch selbst als die Leistungen ihres Großvaters gewürdigt wurden, kam ihm ihr Lächeln wie erstarrt vor.
Sie trat nach vorne, ergriff das Mikrofon und hielt eine perfekt einstudierte Rede, der jede Begeisterung fehlte. Erst gegen Ende glaubte Xante, die echte Karin Wallis sprechen zu hören.
„Mein Großvater“, schloss sie, „lebte sein Leben genau so wie er Rugby spielte … mit Leidenschaft, Talent und Würde. Ich werde seine Erinnerung nicht verfälschen, indem ich sage, es würde ihn verlegen machen, dass Sie alle heute seinetwegen nach Twickenham gekommen sind – das entsprach nicht seinem Stil. Stattdessen hätte er den Tag in vollen Zügen genossen. Und ich weiß, er hätte gerne gehört, dass Sie noch einmal für ihn applaudieren.“
Unter dem Beifall der Gäste marschierte sie zurück zu ihrem Platz. Und dieser Beifall, wurde Xante klar, galt allein ihrem Großvater. Eine flüchtige Sekunde vermeinte er, Karin zu verstehen. Zu begreifen, was es bedeutete, unter dem Druck aufzuwachsen, den der flammende Ruhm des Namen Wallis mit sich brachte. Und als er ihre Hand ergriff und ihr sagte, sie habe ihre Sache gut gemacht, meinte er das absolut ernst.
„Danke.“
Sie entzog ihm ihre Hand und starrte stur geradeaus. Xante schwieg, während der Nachfahre einer weiteren Rugbylegende ans Mikrofon trat.
„Miss Wallis“, sprach einer der Betreuer sie diskret an, als die Reden vorüber waren. „Jetzt findet noch die Parade im Stadion statt. Wird Mr. Rossi Sie begleiten?“
„Nein, ich gehe allein.“
Die Gruppe wurde durch die Korridore und Gänge, die sich im Bauch des Stadions erstreckten, zum Tunnel geführt, durch den auch die Spieler das Feld betraten. Dort nahmen sie Aufstellung und betraten dann gemessenen Schrittes den heiligen Rasen. Jede Rugbylegende wurde über die Lautsprecher angekündigt. Nie in seinem Leben war Xante sich schäbiger vorgekommen, weil er Karin in der Lobby hatte warten lassen und weil er nicht gewusst hatte, was dieser Tag für sie bedeutete. Ja, er schämte sich, überhaupt daran gedacht zu haben, sie ohne die Rose herkommen zu lassen.
„Mir war nicht klar, wie wichtig der Tag ist.“ Er räusperte sich.
„Warum hätte ich dich sonst angerufen?“
In ihren Augen schimmerten Tränen. „Du schaffst das schon“, murmelte er, was sie nur noch mehr verwirrte.
Warum musste er sich plötzlich so nett verhalten? Karin wusste, dass sie ihn unfair behandelte, aber es war die einzige Möglichkeit, die notwendige Distanz zu wahren. Er hatte keine Ahnung, welche Überwindung es sie gekostet hatte, sich bei ihm zu melden. Hemmungslos hatte sie in den Telefonhörer geschluchzt, dabei weinte sie sonst nie. In Xantes Gegenwart entwickelte sie die Selbstbeherrschung einer Zweijährigen.
Karin fror. Der Designermantel, den sie sich im Grunde gar nicht leisten konnte, bot dem Wind keinerlei Widerstand. Der Gedanke, gleich vortreten zu müssen, erfüllte sie mit Furcht. Was, fragte sie sich, würden die jubelnden Menschen wohl denken, wenn sie die Wahrheit wüssten?
Ein Name nach dem anderen wurde ausgerufen, die Familienangehörigen traten nach vorne und wurden mit lautem Applaus gewürdigt. Auf den Großbildleinwänden des Stadions erschienen riesige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die die Helden des Rugbysports zeigten. Endlich war Karin an der Reihe.
„Henry Wallis“, verkündete der Sprecher, was das Publikum in Ekstase zu versetzen schien. Wieder und wieder jubelten die Menschen seinen Namen. Xante bemerkte, dass Karin zögerte. Eine Sekunde hätte er geschworen, sie würde auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen.
„Du schaffst das.“ Er zog sie an sich, hielt sie kurz fest und küsste sie auf den Scheitel. Wie ein Vater, der seine Tochter am ersten Schultag ihrer Wege schickt, schoss es ihm durch den Kopf. Doch als er sie alleine auf das Spielfeld stolpern sah, schien ihm das Bild von Jonas, der von dem Walfisch verschluckt wurde, viel passender. Nie hatte er jemanden gesehen, der so klein und allein wirkte. Und obwohl sie tapfer der Menschenmenge zuwinkte, wusste Xante, dass ihr innerlich das Herz blutete.
Was er allerdings nicht verstand, war, warum ihn das kümmerte.
„Karin.“ Die Zeremonie war vorüber, das eigentliche Spiel in vollem Gange. Sie saßen als Ehrengäste auf der Tribüne. Trotzdem hatte Karin kaum
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