Feuer Und Stein
einer Schiebetür nach unten führten. Dort oben war wohl die Küche.
Ich rollte herum und wollte aufstehen, als ich plötzlich in ein Paar weit aufgerissene, starre blaue Augen schaute. Das Gesicht war fast so blau wie die Augen. Was ich für Holz gehalten hatte, war eine Leiche. Ich kam auf die Beine und taumelte rückwärts an die Gefängnismauer.
Tief durchatmen, befahl ich mir. Du darfst nicht ohnmächtig werden, du hast schon vorher Tote gesehen, viele, nur nicht ohnmächtig werden! - mein Gott, hat er blaue Augen, wie - du darfst nicht ohnmächtig werden!
Endlich beruhigten sich meine Atmung und mein rasender Puls etwas. Die Panik ließ nach, und ich zwang mich, noch einmal zu der jammervollen Gestalt hinzugehen, ob aus Mitleid oder aus Neugierde, weiß ich nicht. Im Grunde gibt es nichts Beängstigendes an einem Toten. Wie häßlich die Umstände auch sein mögen, unter denen ein Mensch stirbt, entsetzlich ist nur die Gegenwart einer leidenden Seele; ist sie fort, dann bleibt nur noch ein lebloses Objekt.
Der blauäugige Fremde war gehängt worden. Er war nicht der einzige Bewohner dieses Grabens. Ich gab mir keine Mühe, unter dem Schnee zu graben, aber jetzt, wo ich wußte, was darunter verborgen war, erkannte ich die Umrisse von gefrorenen Gliedern und runden Schädeln. Mindestens ein Dutzend Leichen mußten hier liegen, die entweder auf Tauwetter warteten, um leichter begraben werden zu können, oder darauf, von den wilden Tieren aus dem nahe gelegenen Wald beseitigt zu werden.
Dieser Gedanke schreckte mich auf. Ich durfte meine Zeit nicht
mit Meditationen über namenlose Tote verschwenden, wenn ich verhindern wollte, daß hier in Kürze noch ein weiteres Paar blauer Augen ausdruckslos in den Himmel starrte.
Ich mußte Murtagh und Rupert finden. Dieser versteckte Hinterausgang könnte vielleicht von Nutzen sein. Er war nicht bewehrt und bewacht wie die anderen Eingänge. Aber ich brauchte Hilfe, und zwar schnell.
Ich schaute nach oben. Die Sonne stand tief und strahlte durch die Wolken über den Baumspitzen. Bei Nachteinbruch würde es wahrscheinlich wieder schneien, und bis dahin war nur noch eine Stunde Zeit.
Ich ging den Graben entlang in der Hoffnung, nicht an den steilen Felswänden hinaufklettern zu müssen. Er machte bald eine Kurve, die vom Gefängnis weg führte, und es sah so aus, als würde er zum Fluß abfallen; vermutlich trug das Schmelzwasser den Müll mit sich fort. Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich fuhr zusammen. Ein Stein, den die Pfote eines großen grauen Wolfes losgetreten hatte, war von oben heruntergefallen.
Aus dem Blickwinkel eines Wolfes betrachtet, hatte ich im Vergleich zu den Brocken unter dem Schnee gewisse Vorzüge. Einerseits bewegte ich mich und mußte gejagt werden, würde vielleicht auch Widerstand leisten, andererseits war ich langsam und ungelenk und vor allem nicht steifgefroren, so daß keine Gefahr bestand, sich an mir die Zähne auszubeißen. Auch roch ich in diesem gefrorenen Abfallhaufen verführerisch nach frischem Blut. Wäre ich ein Wolf, ich würde nicht zögern. Das Tier schien diesbezüglich zum gleichen Schluß gekommen zu sein.
Da erinnerte ich mich an einen Yankee im Pembroke Hospital namens Charlie Marshall. Er war ein angenehmer Zeitgenosse, freundlich wie alle Yankees, und sehr unterhaltsam, wenn es um sein Lieblingsthema ging, und das waren Hunde. Charlie hatte dem K-9-Regiment angehört. Eine Mine hatte ihn und seine zwei Hunde außerhalb von Arles erwischt. Er trauerte um die Hunde und erzählte mir oft Geschichten von ihnen, wenn ich während meiner Schicht ein paar Augenblicke nichts zu tun hatte.
Und so hatte ich erfahren, was man zu tun und zu lassen hatte, sollte man je von einem Hund angegriffen werden. Zwar mußte man beide Augen zudrücken, wollte man die Kreatur, die sich eben vorsichtig einen Weg nach unten suchte, als Hund durchgehen lassen,
aber ich hoffte, daß sie doch ein paar Grundeigenschaften mit ihren gezähmten Nachfahren teilte.
»Du böser Hund«, fuhr ich ihn an und starrte in einen der gelben Augäpfel. »Du bist ein ganz besonders scheußliches Vieh, das will ich dir mal sagen.« (Sprich laut und fest , hörte ich Charlie sagen.) »Das scheußlichste, das ich je gesehen habe.«
Ich wich langsam nach hinten zurück und tastete mit der Hand nach der Steinmauer. Als ich sie erreicht hatte, schob ich mich in Richtung Ecke, die etwa zehn Meter entfernt war.
Ich zog die Bänder meines Umhangs auf
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