Feuerflut
Ich weiß, daß ich keine Angst haben dürfte, aber es ist seltsam.
Eines der größeren Kinder (ich kann nur als großes Kind von ihm denken) ist kräftig und von dumpfer Bosheit. Manchmal muß er mit weichen Riemen und Schnallen festgebunden werden, damit er sich oder uns nicht verletzt. Ich höre, wie er anfängt, seinen Kopf gegen das obere Ende des Bettes zu schlagen, wieder und wieder. Ich laufe die Station entlang. Er soll jeden Abend eine Spritze bekommen, damit er schläft; sie wollen nicht, daß ich allein mit ihm fertig werden muß. Ich habe ihm einen Namen gegeben, weil seine Eltern es nicht getan haben. Sein Körperbau ist perfekt, und er ist schön, aber er hat keinen Verstand und keine Kontrolle über Blase und Darm. Ich rufe ihn: Peter!, aber er hört nicht auf. Er kennt mich nicht; er hat mich noch nie gesehen. Ich fasse seinen Arm und sage ihm sanft, er solle still sitzen, und ich versuche ihn vom Kopfende wegzuziehen. Wieder schlägt sein Kopf dagegen, und als sein Haar hochfliegt, sehe ich seine Augen. Sie sind blau … genauso klar und blau …
Meine Stimme wird lauter, und ich versuche, sie zu senken. Wie ein Tier wird er meine Panik spüren und wissen, daß ich Angst habe. Ich lasse das Gitter herunter und fasse ihn bei den Schultern. Er ist größer als ich und um die Hälfte schwerer. Wenn er schläft, ist sein Gesichtsausdruck friedlich, aber jetzt zieht er die Lippen zurück und bleckt die Zähne – das Licht funkelt auf ihnen und blendet mich. Ich fühle, wie Tränen über meine Wangen rinnen, wie geschmolzenes Erz.
Er schlägt mich. Der Schlag wirft mich zurück und läßt mich gegen ein anderes Bett prallen; ich schlage mit dem Kopf auf und gleite zu Boden. Ich kann nicht aufstehen; so sehr ich es auch versuche, ich habe meinen Körper ebenso wenig unter Kontrolle wie die Kinder. Ich spüre, wie Blut aus meiner aufgeplatzten Lippe fließt und sich mit Tränen vermischt und um den dumpfen Schmerz an der Stelle, wo das Bettgeländer mir den Kopf aufgeschlagen hat, breitet sich klebrige Feuchtigkeit aus. Ich versuche noch einmal aufzustehen und werde fast ohnmächtig. Danach liege ich still.
Ich höre ein Klirren und das Rutschen von Laken. Ich strenge meine Augen an und sehe, wie Peter aus seinem Bett kriecht. Er hat nie gelernt zu gehen. Er scheint auf mich zuzukommen, und wieder habe ich Angst, aber er ignoriert mich und wankt in den Gang zwischen den Bettreihen. Er bewegt sich weiter in mein Gesichtsfeld hinein. Ich sehe andere Kinder kommen, und ich höre, wie die Seitengitter der Krippen klirrend herabfallen. Ich muß träumen. Der Lärm wird stärker. Ich beiße die Zähne zusammen, bis es schmerzt, aber anders als ein Kneifen weckt mich das nicht auf. Ich weiß, wenn ich mich bewegen könnte, wenn ich schreien oder überhaupt irgendein Geräusch machen könnte, würde alles aufhören. Wenn ich das nicht dächte, würde ich an meinem Verstand zweifeln.
Die Kinder sammeln sich um Peter.
Ich höre nur verzerrt und fühle mich sehr weit weg. Ich höre sie reden, aber ich kann die Worte nicht verstehen. Sie wirken wie ein Kriegsrat von alten Veteranen, die sich ihre Kriegsverletzungen zeigen: fehlende Hände, Füße, Ohren und Nasen, verdrehte Körper, Seehundsflossen in Krebspanzern, tiefe Narben, die schmerzen, wenn ein Unwetter bevorsteht. Sie sehen so absurd aus, daß ich lachen würde, wenn ich könnte. Es wäre das erste Mal, daß ich hier lache.
Sie sehen sehr erbost aus, und ihre Stimmen sind schrill. Eines von ihnen schüttelt eine Faust aus sieben zusammengewachsenen Fingern.
Ich wünschte, es wäre Tag. Dann hätte ich wenigstens die Hoffnung, daß eine Schwester vorbeikäme, auf dem Weg zur Kaffeepause, oder ein Arzt auf seinem Rundgang oder sogar jemand von den seltenen Eltern, die hierherpilgerten, um sich von ihrer Schuld zu reinigen, mit fünfzehn Minuten, mit Mitleid und Flucht.
Ich glaube, daß die Kinder sehr lange dort sind, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Mir ist schwindlig. Mein Kopf und meine Schulter schmerzen, wo sie sich gegen den Boden pressen. Meine körperliche Hilflosigkeit gibt meiner Phantasie zuviel Spielraum: Die Kinder verschwören sich gegen mich. Wenn die Ärzte und die anderen Schwestern morgen früh kommen, werde ich gekreuzigt an der Wand hängen. Ich werde eine Krone aus Nadeln und Kathetern tragen. Ich werde nackt sein und bluten, aber nach drei Tagen werde ich nicht auferstehen. Aber wenn sie in der Lage sind, Rebellions- und
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