Feuerfrau
manchmal auf das Dach. Dort sitzt du, eine reglos schwarze Gestalt. Deine Füße baumeln über den Rand, deine glitzernden Augen starren den Mond an. Dein Lächeln ähnelt dem eines schlafenden, noch ganz kleinen und glücklichen Kindes. Du blickst in die Wunderferne der Nacht; was du siehst, ist ein Märchen.
Manchmal gelingt es dir, das Haus unbemerkt zu verlassen. Du wanderst durch die Nacht, lautlos wie ein kleines Tier. Du kletterst auf Bäume, läßt dich über Kopf an den Knien herunterhängen und schaukelst ohne Schwere, fast ohne Substanz, in der Luftspiegelung des Mondscheins.
Man gibt dir Schlaftabletten. Du spuckst sie heimlich aus. Man sperrt dich im Zimmer ein; du entkommst aus dem Fenster. Du springst von der ersten Etage auf den Boden, ohne dich zu verletzen. Man fesselt dich ans Bett; du bist sehr gelenkig, und es gelingt dir viele Male, dich zu befreien.
Du gleitest weg, durch Schweigen und Abwesenheit hindurch, durch alle Schikanen und Verbote. Die Welt der Menschen wird dir immer verhaßter.
Es gibt eine andere Welt. Und sie ist ganz nahe. Rund um das Haus stehen Bäume; das Haus wird davon erstickt; meist sind es junge Bäume, sehr dicht gepflanzt. Zum Besitz gehört ein stilles, sumpfiges Wasser.
Libellen zucken durch den Schilf, Frösche quaken und Ratten huschen schattenhaft zwischen dem Wasser und dem modrigen Ufer. Manchmal sonnt sich eine goldgrüne Ringelnatter auf einem Stein. Du beobachtest sie, gepackt von ihrer Schönheit. Wenn du auf besondere Art pfeifst, wiegt sie den Kopf, als ob sie der Melodie lauschen würde. Du streifst durch den Wald, blinzelst im Licht, das durch die Zweige fällt. Du ahmst das Kreischen der Raben nach, die hoch über den Bäumen kreisen, und dann, auf den Zweigen wippend, den Flugwind aus ihrem Gefieder schütteln.
Libellen und Schmetterlinge setzen sich auf deine Finger. Du lockst Wildkaninchen heran, beobachtest kämpfende Hasen, wirfst den Eichhörnchen Körner zu.
Ein Pfad zwischen den Bäumen führt zu einem Gut. Bei den Stallungen sind zwei langhaarige Pyrenäen-Schäferhunde angekettet. Du näherst dich furchtlos, legst ihnen die Hand auf den Kopf. Die Hunde beschnuppern dich, reiben sich an deinen Beinen und wedeln mit dem Schwanz. Der Gutsverwalter kommt angelaufen: »Nimm dich in acht, Junge, diese Hunde fallen jeden an!« Du schüttelst lächelnd den Kopf. Nein, die Hunde tun dir nichts. Du liebst die Berührung des pulsierenden glatten Fells, genießt das Schnurren der Katzen an deiner erhitzten Haut. Als man später beim Militär dein Gehör prüft, stellt sich heraus, daß du überdurchschnittlich gut hörst, daß du Frequenzen hören kannst, die normalerweise nur von Tieren wahrgenommen werden. Aber noch bist du ein Kind, das aus der unverständlichen, brutalen Realität in eine Welt der Sinnlichkeit und überfeinerten Wahrnehmungen flieht. Die stets wechselnden Bilder des Himmels und der Erde, die mannigfaltigen Erscheinungsformen laufender, kriechender oder fliegender Lebewesen sind gleichzeitig Wunder und Aufforderung zur Begegnung. Allmählich erkennst du mit scharfem, sicherem Instinkt, was dir nützt, was Furcht auslöst und was ganz einfach nur schön ist. Ohne daß es dir bewußt wird, belehren dich die Tiere über die Vorzüge und Gefahren gewisser Pflanzen und Kräuter, zeigen sie dir, wie man an fast unbemerkbaren Schwingungen des Lichtes und des Dunstes ein Gewitter voraussagen kann. Die Welt der Menschen ist grausam; diese andere, verborgene Welt jedoch ist ein Geheimnis, ein phantastisches Bilderbuch. Rund um dich spürst du eine andere Kraft, gewaltig und über alles menschliche Tun erhaben. Eine Handvoll Erde wird zu schimmernden Schmuckstücken oder zu zartglänzenden Perlen. In seidenen Blütenkronen glitzern Insekten wie Tautropfen. Grenzenlos klein und doch unsagbar groß ist der Nebelstrom der Milchstraße, wenn du sie aus dem dunklen Zimmer betrachtest oder auf das Dach steigst, um näher bei ihr zu sein. Wie Fackeln leuchten die Planeten. Ihre Position prägt sich in dein Gedächtnis ein, und morgens, im Unterricht, schwimmen die Buchstaben vor deinen müden Augen. Leopold Xavier lächelt, schlägt zu.
Du beißt die Lippen zusammen, du schaust ihn still an; geistesabwesend, solange seine Hände nicht deinen Körper berühren.
Es ist Hochsommer: Ferien. Die Sonne scheint schwer und golden, die Abende sind grün wie Smaragd. Du schleichst dich zu den Koppeln, wo die Pferde weiden. Du beobachtest, wie sie den Hals
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