Feuerfrau
kommt es daher, daß du ruhiger geworden bist. Daß du dich für Naturgeschichte, Botanik und Geographie interessierst.
Gedichte klassischer Autoren liebst du besonders; der Rhythmus der Sprache fasziniert dich. Du merkst, daß Leopold Xavier zu verstehen versucht, was du fühlst und warum du manche Dinge tust oder nicht tust.
Du sprichst nicht darüber; du lauschst in deine eigene Stille hinein und besitzt gleichzeitig die Fähigkeit, das Wesen eines Menschen oder eines Tieres schnell und unfehlbar zu erkennen.
Du schaust tief in Leopold Xavier, aber nicht tief genug. Du kannst nicht Begierden lesen, die du selber nicht kennst. Du hast keine Angst, aber du begreifst nicht. Du bist lediglich auf unbestimmte Art beunruhigt.
Du bist vierzehn geworden, hochgewachsen, kräftig und schlank; eine geheimnisvolle, zähe Blume, mit blauschwarzem Haar und verträumtem Blick, der Mund hart und sinnlich. Wasser und Luft haben deine Haut geglättet. Du bist schön, wie gefährliche Dinge es sind, Luchse oder Wölfe oder Waldgeister. Du hast Augen, die das Böse wohl sehen; du umgehst es jedoch, aus reinem Instinkt, wie Tiere im Wald verunreinigte Lagerplätze meiden. Du hast gelernt, gewisse Vorgänge in deinem Körper herbeizuführen, bringst sie aber nicht mit Verboten in Verbindung; sie sind für dich ebenso natürlich wie das Atmen oder deine Notdurft zu verrichten.
Du bist keusch, auf deine ganz besondere Art.
Es geschieht an einem Nachmittag, im Oktober. Die Hitze ist drückend; Regen zieht auf. Es duftet nach warmem Gras, nach reifen Äpfeln. Am offenen Fenster brummt eine Wespe. Du bist mit Leopold Xavier allein im Zimmer. Es ist eine gefährliche Einsamkeit, denn sie währt lange genug, um ihn aufzuregen, während seine Gedanken frei sind, um sich ihren Phantasien hinzugeben. Leopold Xavier hat seinen Kragen gelockert. Er ist eigentümlich schweigsam und rot im Gesicht. In der Vertraulichkeit zwischen Lehrer und Schüler streift seine Hand deine Hand oder deine Wange, während du dich über das Lesebuch beugst. Er läßt dich aus »La Legende des Siecles« vorlesen; du verlierst dich in den Klängen und Farben der Wörter; sogar ihre Aura ist schön. Leopold Xavier wischt sich die Hände mit einem Taschentuch ab. Du beachtest ihn nicht. Das Brummen der Wespe hörst du nur aus weiter Ferne. Plötzlich rückt Leopold Xavier ganz nahe an dich heran. Er preßt sich an dich; seine Hand fährt zwischen deine Schenkel, betastet dich. Die Zeit bleibt stehen, doch nur für einen Atemzug. Du weichst zurück, ein einziger Reflex der Nerven. Dein ganzer Haß, jahrelang aufgestaut, bricht aus dir heraus. Du fällst Leopold Xavier an wie ein Raubtier, drückst ihn gegen die Wand, verdrehst ihm den Arm.
Du zerschmetterst ihm das Schlüsselbein, kugelst ihm den rechten Ellbogen aus. Man muß dich gewaltsam von ihm losreißen.
Wie kam es dazu? Du bist unfähig zu antworten. Du kannst dich weder verteidigen noch deine Reaktion begründen. Es sieht wie ein ungeheures Mißverständnis aus. Du hast das furchtbare Gefühl, wenn du nur die richtigen Worte finden könntest, müßten die Eltern verstehen. Aber du hast das Chaos betreten, bist hilflos der Empörung, dem vernichtenden Urteil ausgeliefert. Leopold Xavier merkt, höchst erleichtert, daß dir völlig unklar ist, was er eigentlich von dir wollte, und daß du ihn auf keine Weise in Verruf bringen wirst. Großzügig verzichtet er auf eine gerichtliche Klage.
Er wisse ja, wie es um dich stehe, und sei bereit, das als dein Unglück und deine Strafe anzusehen. Die Mutter bedeckt die Augen mit einem Taschentuch und schluchzt, der Junge habe den Teufel im Leib, sie habe es schon immer gespürt. Der Vater, blaß in seinem gebieterischen Zorn, hält mit gefaßter Stimme eine wohlüberlegte Rede: Von nun an darfst du keine Nachsicht mehr erwarten. Man hat dir eine große Gelegenheit gegeben.
Statt sie zu nutzen, statt dankbar zu sein, hast du dich auf schändlichste Art ins Unrecht gesetzt. Jetzt werden Maßnahmen ergriffen. Deine schlechten Instinkte müssen ausgemerzt werden.
Du kommst in eine besondere Schule, wird dir gesagt. Die Schule ist eine Erziehungsanstalt, in Tarbes.
In dieser Anstalt erlebst du den Höhepunkt des Abscheus, die Betreuer sind Psychologen der Dressur, sie teilen jedem Zögling zu, was in seinem Fall als nützlich und nötig erscheint. Schläge. Schikanen.
Beruhigungstabletten oder Spritzen. Die Anstalt nimmt Jungen zwischen vierzehn und einundzwanzig auf.
Weitere Kostenlose Bücher