Feuermale
nicht daran erinnern, sich gegen seinen Schreibtisch gelehnt zu haben, hatte keine Ahnung, wieviele Minuten weg waren. Er rieb sich mit seinen großen Händen übers Gesicht, leckte seine Lippen und entdeckte den Phantomgeschmack von Scotch. Ein seltsamer psychologischer Dreh und ein Bedürfnis, das unerfüllt bleiben würde. Er gestattete es sich nicht zu trinken. Er erlaubte es sich nicht zu rauchen. Er erlaubte sich nicht viel. Wenn er auch noch Bedauern in diese Liste aufnahm, was blieb ihm dann noch?
Er ging zu dem Teil der Wand, an dem er kurze Notizen über die Opfer des Feuerbestatters aufgeklebt hatte, von ihm selbst mit farbigen Markern gekritzelt. Alles Großbuchstaben. Eng, mit hartem Rechtsdrall. Die Art Handschrift, bei der Graphologen die Augenbrauen hochzogen und einen weiten Bogen um ihn schlugen.
Fotos von allen drei Frauen waren über seine Notizen geklebt. Ein Ringordner lag offen auf dem Tisch, angefüllt mit Seiten über Seiten ordentlich getippter Berichte, Karten, Maßstabzeichnungen der Tatorte, Autopsieprotokolle – seine tragbare Bibel des Falles. Aber er fand es hilfreich, ein paar grundlegende Informationen linear aufzureihen – deshalb die Notizen an der Wand und die Fotos der drei lächelnden Frauen – jetzt fort aus dieser Welt, ihr Leben ausgeblasen wie Kerzen, ihre Würde gewaltsam entrissen.
Drei weiße Frauen. Alle zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig. Größe zwischen eins fünfundsechzig und eins fünfundsiebzig. Statur von grobknochig bei Lila White bis zur zierlichen Fawn Pierce bis zur durchschnittlichen Fräulein Mustermann/Jillian Bondurant.
Zwei Prostituierte und eine College-Studentin. Sie hatten in verschiedenen Teilen der Stadt gelebt. Die Nutten arbeiteten in der Regel in zwei verschiedenen Vierteln, von denen Jillian Bondurant keines frequentierte. Lila und Fawn waren sich vielleicht gelegentlich über den Weg gelaufen, aber es war höchst unwahrscheinlich, daß Jillian dieselben Bars, Restaurants oder Läden besucht hatte.
Die Drogengeschichte hatte er in Betracht gezogen, aber bis jetzt hatten sie nichts, was sie untermauern könnte.
Lila White war sauber geblieben, nachdem sie vor einem Jahr einem County Programm beigetreten war. Fawn Pierce hatte, soweit man wußte, nie Drogen konsumiert, obwohl sie im Ruf stand, gelegentlich tagelang billigem Wodka zu frönen. Und Jillian? In ihrer Wohnung hatte man keine Drogen gefunden, in ihrem Körper auch nicht.
Sie hatte keine Vorstrafen wegen Drogenmißbrauchs.
Bislang noch keine Anekdoten über Drogenkonsum.
»Glauben Sie etwa, sie möchten, daß die Leute wissen, warum ihre Töchter Huren und Drogensüchtige geworden sind?«
Er konnte immer noch die Verbitterung in Peter Bondurants Stimme hören. Woher kam sie?
Jillian war das Stück, das nicht in das Puzzle dieser Verbrechen paßte. Sie war es, die das Profil verzerrte. Es gab einen gewöhnlichen Verbrechertyp, der Prostituierte jagte. Prostituierte waren Opfer aus einer Risikogruppe, leichte Beute. Ihre Mörder waren meist gesellschaftlich inadäquate, unterbeschäftigte weiße Männer, die erniedrigende Erlebnisse mit Frauen gehabt hatten und versuchten, sich an dem Geschlecht zu rächen, indem sie die bestraften, die sie für die schlimmsten dieser Gruppe hielten.
Außer Jillian hatte ein heimliches Leben als Nutte geführt… Nicht total abwegig, nahm er an, aber bis jetzt gab es noch keinen Hinweis darauf, daß Jillian einen einzigen Freund hatte, geschweige denn eine Liste von Freiern.
»Jungs haben sie nicht interessiert. Sie wollte keine Beziehungen auf Zeit. Sie hatte soviel durchgemacht…«
Was hatte sie durchgemacht? Die Scheidung ihrer Eltern. Die Krankheit ihrer Mutter. Einen Stiefvater in einem neuen Land. Was sonst noch? Etwas Tiefergehendes?
Dunkleres? Etwas, das sie in die Therapie mit Lucas Brandt drängte?
»… Sie sollten bedenken, daß die Probleme, die Jillian zu mir gebracht haben, möglicherweise überhaupt nichts mit ihrem Tod zu tun haben. Ihr Mörder hat möglicherweise gar nichts über sie gewußt.«
»Aber ich setze einen Dollar darauf, daß er es hat, Dr. Brandt«, sagte er leise und sah den Schnappschuß des Mädchens an. Er spürte es in seinem Bauch. Jillian war der Schlüssel. Etwas in ihrem Leben hatte sie in das Fadenkreuz dieses Mörders gebracht. Und wenn sie herausfinden könnten, was das war, dann hätten sie vielleicht wenigstens das Quentchen einer Chance, dieses Schwein zu fassen.
Er ging zurück
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