Feuermohn
vollen Unterlippe. Ihre Augen waren groß, blau und wunderschön. Sie sah aus wie ein Engel, hatte ein freundliches, offenes Gesicht und ein gewinnendes Lächeln.
„Hallo“, rief sie fröhlich. „Ich bringe Ihnen das Kleid für den Mohnball.“
„Welches Kleid?“
Die Frau ließ sich von Annas abwehrender Haltung nicht abschrecken. Sie legte ihr Mitbringsel über das Bett und zwinkerte ihr zu. „Wer zum Mohnball kommt, muss verkleidet sein. Ohne Kostümierung gibt es keinen Zutritt. Nun blicken Sie doch nicht so finster drein. Schauen Sie sich das Kleid an, und Sie werden entzückt sein.“ Mit diesen Worten begann sie das Kleid aus dem Karton zu schälen. Eine venezianische Maske in schwarz-gold, reich verziert mit edlen Spitzen und Borten, glitzerndem Strass, Perlen, Zierstäben und Ornamenten lag dem Kleid bei.
Das Kleid war im italienischen Stil gearbeitet. Die Mokka- und Goldtöne harmonierten wunderbar miteinander, und obwohl das Kleid über einen enormen Ausschnitt verfügte, so wirkte es doch edel und kein bisschen verrucht. Das Oberteil war eng geschnitten, der Rock etwas ausgestellt und mit glitzernden Perlen besetzt. Die kostbare Seide glänzte matt. Champagnerfarbene Spitzensäume schmückten Ausschnitt, Taille und Ärmel. Das Kleid war ein Traum, und so sehr Anna sich auch bemühte, es scheußlich zu finden, so gelang es ihr aber nicht, einen Ruf des Entzückens zu unterdrücken.
„Sehen Sie! Habe ich Ihnen zu viel versprochen? Sie werden sich darin in eine venezianische Adelige aus längst vergangenen Zeiten verwandeln. Und ich bin sicher, dass Sie sich darin wohl fühlen werden. Ich bin übrigens Franziska.“ Sie streckte Anna die Hand zur Begrüßung hin. „Wie lange werden Sie bleiben?“
„Bis morgen Mittag – nach dem Interview. Ich komme von der Presse und werde über den Mohnball berichten.“
„Wenn Sie morgen überhaupt noch weg wollen.“ Franziska lächelte wissend. „Alle Frauen, die hierher kommen, bekommen nicht genug; bleiben zumindest über das Wochenende.“
„Und wie lange bleiben Sie?“
„Oh, ich wohne und arbeite hier. Ich kümmere mich um die Bibliothek und die Buchhaltung … bewohne eine hübsche Suite im Westflügel. Während der Urlaubszeit vertrete ich außerdem Yvette, die sich um das Wohl der Gäste kümmert.“ Sie lächelte. „So, nun muss ich weiter. Wir sehen uns heute Abend.“ Sie zog die Tür hinter sich zu, dabei eine Wolke Maiglöckchenduft verströmend.
Als Anna kurze Zeit später auf dem Bett saß, war sie noch immer fassungslos. In dieser Robe sollte sie also heute Abend am alljährlichen Mohnball des größten Playboys weit und breit teilnehmen. Der Ball eines Gigolos, der nur allzu gerne Damen beherbergte und in keiner Weise ein Blatt vor den Mund nahm; der sich einen Spaß daraus machte, sie in prekäre Stimmungen zu versetzen. Der genug Potenzial besaß, um sündige Gedanken zu wecken – auch in ihr.
Anna schüttelte den Kopf. Sie musste dagegen ankämpfen. Unbedingt. Dass dieser Job sie einiges an Energie kosten würde, war ihr von Anfang an bewusst gewesen. Dass in seiner Gegenwart allerdings alles in ihr in Aufruhr geraten würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Welche fremdartige Welt tat sich da vor ihr auf?
Würde nicht der Karton mit dem in Samt eingeschlagenen Kleid neben ihr liegen, käme ihr das alles wie ein verwegener Traum vor. Sie berührte den edlen Stoff des Kleides, die dichte, etwas unregelmäßige Seide. Was für ein exquisites Material! Es raschelte sicherlich, wenn man sich darin bewegte.
Fiebrige Ausgelassenheit machte sich in ihr breit. Hatte das Kleid einen Zauber über sie geworfen, der sie zusätzlich trunken machte, sie eisern gefangen hielt?
Anna fühlte sich leicht und unbeschwert, vom Schicksal begünstigt. Und fast wie beschwipst bei der Aussicht, Aaron bald wiederzusehen. Der Gedanke an den bevorstehenden Abend versetzte sie in Hochstimmung.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Hätte ihr jemand heute Morgen prophezeit, sie würde einem Zusammentreffen mit ihm förmlich entgegenfiebern, sie hätte denjenigen für verrückt erklärt.
Diese irrsinnige Vorfreude raubte ihr fast den Atem. Sie umhüllte sie wie ein verführerischer Traum, lud sie ein, innerlich loszulassen, den Augenblick und den bevorstehenden Abend zu genießen. Sie schloss für einen Moment die Augen, rief sich Aarons Bild ins Gedächtnis und atmete einmal tief. Wieso nicht? Was sollte sie davon abhalten, den Abend zu genießen?
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