Feuermohn
den Haupttrakt, vorbei an goldeingefassten Gemälden, blank polierten Türen und unter imposanten Kronleuchtern hindurch. Noch ein Stückchen den Gang entlang, und sie war am Ziel. Ihr Blick erfasste die matt goldene Aufschrift ‚Bibliothek’, dann schob sie die riesige Flügeltür auf und trat ein.
Niemand war zu sehen. Franziska hatte sicher schon Feierabend. Der Duft von Papier und Leder hing in der Luft. Ein Geruch, den Anna liebte. Der Raum verfügte über zwei Fenster, die zu den hinteren Teilen der Gärten hinaus zeigten. Die Aussicht war atemberaubend. Ein schmaler gepflasterter Weg zog sich halb versteckt durch Holunder und Ginster. Auf den Wiesenflächen ringsherum Mohnblumen, wohin der Blick auch fiel. Rot lackierte Sitzbänke, ein weißer Pavillon, umrankt von wilden Heckenrosen, hauchzarte Vorhänge, die sich im lauen Sommerwind bewegten, eine weiße Büste von Aphrodite. Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Die Sonne warf orangefarbenes Licht in den Raum, verklärte den Blick.
Anna wandte sich den Regalwänden zu, freute sich darauf, es sich in dem samtbezogenen Ohrensessel mit einem Buch in der Hand und weiteren Werken griffbereit auf dem Beistelltisch gestapelt, gemütlich zu machen. In einer der Stellwände entdeckte sie ein kleines Buch mit dem Titel: „Amore impulsus non odio commotus age!”, was „Handle von Liebe angetrieben und nicht von Hass bewegt!“ bedeutete. Der Inhalt des Buches war in Latein verfasst. Jedoch war es mit mehreren Zeichnungen und Illustrationen angereichert. Sie hielt es in den Händen, spürte das edle Material des Einbandes, blätterte darin. Gerade wollte sie es zurückstellen und sich auf die Suche nach Kriminalromanen machen, da entdeckte sie im hinteren Teil der Bibliothek eine schmale Tür. Neugierig ging sie darauf zu, drückte die goldene Klinke. Vor ihr lag ein Raum, der in warmes Grün getaucht war. Grün – durch und durch grün. Die Stofftapete, deren Lilienmuster sich champagnerfarben abhob, die dünnen Vorhänge vor dem offenen Fenster, die sich träge bewegten, der dicke Teppich, der an etlichen Stellen ausgetreten war und seine Weichheit verloren hatte, die zerknitterten Samtbezüge der Stühle – alles grün! Aber kein Grün wie Gras, kein Grün wie das einer Tanne, sondern ein weiches Grün, das sich warm auf die Sinne legte.
An der Wand schlug eine Uhr. Das gesprungene Ziffernblatt vergilbt, das elfenbeinfarbene Holz alt, das Pendel darunter in gleichmäßigem Takt. Alles wirkte ruhig, besänftigend, interessant. Der Raum enthielt einen Arbeitstisch, zwei Stühle und Regale, die voll mit edlem Papier und Dutzenden von Tintengläsern in den unterschiedlichsten Farbschattierungen waren. Auf dem Tisch und einem Bord darüber standen altertümliche Federkiele in ihren Halterungen. Auf einem der grün gepolsterten Stühle saß ein Mann. Er war alt, sehr alt, trug einen weißen Bart und einen grünen Arbeitskittel. Er schaute auf, lächelte freundlich.
Weise … das war die erste Assoziation, die Anna in den Sinn kam. Klug und herzlich. Sein Bild prägte sich ein. Das Gesicht war mit unzähligen Runzeln übersät, die hellblauen Augen blickten wach und listig.
„Selten, dass sich jemand hierher verirrt. Kann ich etwas für Sie tun?“ Seine Stimme war tief und melodiös. Jedes Wort kam klar und vernehmlich. Er erinnerte Anna an einen Märchenerzähler, den sie als Kind so gemocht hatte.
Sie reichte ihm die Hand. „Anna Lindten. Ich wollte nicht stören … die Neugier … ich … es ist heimelig hier.“
„Freut mich, dass Ihnen mein kleines Reich gefällt. Setzten Sie sich doch.“
Anna nahm Platz, bewunderte das edle Büttenpapier, die geschwungenen Zeichen, die altertümlichen Federkiele.
„Ich gehe hier meinem Hobby nach. Wandle auf den Spuren altertümlicher Schreiber und übe mich in der Kunst der Hieroglyphen. Ein interessantes, gleichzeitig aber auch beruhigendes Hobby, denn es entspannt, wenn die Feder übers Papier gleitet, wenn die Gedanken mit der Tinte dahinfließen. Und Sie? Haben Sie auch ein Hobby?“
Anna überlegte, schüttelte den Kopf.
„Nicht direkt. Mein Beruf ist mein Hobby. Er hat auch mit Schreiben zu tun. Ich bin Journalistin. Herr Vanderberg war so nett, mir ein Interview zu geben.“ Beim Aussprechen seines Namens fühlte sie Hitze in sich aufwallen. Leichte Röte stieg in ihre Wangen, ihr Mund wurde trocken.
„So, so. Das wundert mich. Wo er die Presse doch normalerweise ablehnt.“
Er stand auf
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