Feuernacht
ihrem Verhalten bei Jakobs Prozess zusammenhing und damit, dass sie sich von Einvarður hatte manipulieren lassen, um ihre Karriere voranzutreiben. Als Einvarðurs Einfluss im öffentlichen System schwächer wurde, hatte sie keine Chance mehr. Offenbar hatte Glódís ihrem Chef erzählt, Einvarður hätte sie dazu gezwungen, Zusatzkosten für Tryggvis spezielle Ernährungs- und Therapiebedürfnisse in der Buchhaltung zu vertuschen. Die Kosten, die Tryggvis Eltern normalerweise selbst hätten tragen müssen, waren von den Budgets der anderen Heimbewohner abgezweigt worden. Einvarður tat vollkommen erstaunt, als er damit konfrontiert wurde, und behauptete, er hätte geglaubt, das gehöre zum Angebot im Heim, er würde die Kosten selbstverständlich zurückerstatten. Die E-Mails, die Glódís zur Bestätigung ihrer Vorwürfe vorlegte, bewiesen nichts – Einvarður hatte penibel darauf geachtet, nichts zu schreiben, worauf man ihn später festnageln konnte. Glódís’ verzweifelter Versuch, ihre Kündigung rückgängig zu machen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt.
»Man sollte sich nicht zu sehr darüber aufregen«, sagte Dóra, legte die Hände auf den Schreibtisch und lächelte Jakob wieder zu. »Das Wichtigste ist, dass du wieder zu Hause bist, Jakob, und ihr ein ganz normales Leben führen könnt. Das ist doch kein schlechtes Ende, oder?«
»Nein.« Jakobs Blick wanderte von Dóra zu seiner Mutter. »Aber es wäre noch besser, wenn wir jetzt gehen dürfen.«
Dóra musste breit grinsen. »Klar, dürft ihr jetzt gehen. Es hat ja keinen Sinn, frei zu sein, wenn man in einer Kanzlei rumsitzen und sich das Gequatsche einer Anwältin anhören muss.«
Anschließend brachte sie die beiden zur Tür. Als sie sich im Flur voneinander verabschiedeten, wollte Jakobs Mutter gar nicht mehr aufhören, sich bei Dóra zu bedanken. Als Jakob seine Mutter endlich durch die Tür gezogen hatte, sah Dóra ihnen nach, wie sie Hand in Hand die Treppe hinuntergingen. Ein wohliges Gefühl erfüllte sie, und sie wäre am liebsten sofort nach Hause gegangen. Zu ihrer Familie. Auch das gestrige Gespräch mit Berglind war erfreulich gewesen. Die Frau hatte sich bei Dóra dafür bedankt, dass sie den Unfall aufgeklärt hatte, und sich für ihr Gerede über Geister entschuldigt. Der ganze Spuk schien auf den schlechten Zustand des Hauses und Margeirs Schnüffeleien im Garten zurückzuführen zu sein. Am Ende war also alles gut ausgegangen, und Dóra hatte überhaupt keine Lust, sich umzudrehen und Bella zu sehen, die hinter dem Empfangstresen ihre Fingernägel schwarz lackierte. Aber sie musste noch ihre Handtasche holen, bevor sie nach Hause fuhr. Unterwegs hatte sie dann noch einen Termin: Brazilian Waxing – zur Feier von Matthias’ neuem Job bei der Bank und weil ihre Eltern am Abend Wohnungsübergabe hatten.
Im Moment gab es nur eine Sache, die Dóra mehr zu schaffen machte als die Sekretärin und die Angst vor den zu erwartenden Schmerzen: Eine gerechte Strafe würden Einvarður und seine Familie für ihr Vergehen an Jakob, Ragna, Lísa, dem toten Mädchen auf dem Vesturlandsvegur, deren Eltern und allen, die bei dem Brand ums Leben gekommen waren, nicht bekommen.
Fanndís knetete ihr Ohr und starrte durch das Wohnzimmerfenster in den bewölkten Abendhimmel. Es war vollkommen still. Keiner hatte Lust, den Fernseher oder das Radio einzuschalten. Die Nachrichten versetzten die Familie schnell in Unruhe. Berichte über die jüngsten Ereignisse gingen ihnen durch Mark und Bein. Die Reporter trugen sie mit der für sie typischen Ausdrucksweise vor, mit immer stärker werdenden Betonungen, die am Ende des Satzes einen schwindelerregenden Höhepunkt erreichten. Fanndís wusste, dass Einvarður hinter ihr auf dem Sofa saß, denn die Seiten des Buches, das er vorgab zu lesen, raschelten.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte Fanndís. Sie drehte sich nicht um, starrte nur weiter aus dem Fenster und knetete ihr Ohr.
»Was?« Die Stimme ihres Mannes war heiser. Das war das Erste, was er seit dem Abendessen gesagt hatte.
»Kaffee. Willst du einen Kaffee?« Fanndís drehte sich zu ihm, ließ den Arm sinken und richtete ihr Haar, um das feuerrote Ohrläppchen zu verdecken. »Es ist so kalt hier. Hast du den Installateur schon angerufen?«
Einvarður schlug das Buch zu und legte es auf den Couchtisch. »Nein und nein: Ich will keinen Kaffee und habe den Installateur nicht angerufen.« Er stand auf. »Ich glaube, ich gehe ins
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