Feuernacht
irgendwelche Schmerzen hast, okay?« Sie blinzelte einmal. »Hast du Schmerzen?« Sie blinzelte zweimal, was ihm nicht viel weiterhalf. Vielleicht ging es ihr im Moment gut, aber sie hatte am Morgen Schmerzen gehabt. Das mussten ihre Eltern herausfinden. Er bekam eine Gänsehaut und musste wieder daran denken, wie es sich wohl anfühlte, allein mit seinen Gedanken in einer leblosen Hülse zu stecken.
Damit sie nicht merkte, wie unwohl er sich plötzlich in ihrer Anwesenheit fühlte, drehte er ihr schnell den Rücken zu und hantierte am Tropf herum. »Willst du fernsehen? Bis sechs Uhr laufen im Hausprogramm Filme, da ist bestimmt was dabei, das dir gefällt.« Er bückte sich, um das Mädchen ein wenig im Bett aufzusetzen. Dann schnallte er ihr sorgfältig einen speziellen Gurt unter die Achseln, der sie am Herunterrutschen hinderte. Er zog den Fernseher näher heran, schaltete ihn ein und suchte das Kinoprogramm. Auf dem Bildschirm erschienen zwei amerikanische Schauspieler, die ihm bekannt vorkamen. Er wusste nicht, welcher Film das war, und konnte nur hoffen, dass er ihr gefiel. »So, bitte sehr, ich habe jetzt Feierabend, wir sehen uns dann morgen früh.«
In der Tür drehte er sich noch einmal um, weil er es bis dahin nicht über sich gebracht hatte, dem Mädchen in die Augen zu schauen. Er erschrak, als er sah, dass sie ihm mit ihrem Blick folgte und ständig zwinkerte. »Bis morgen dann.« Mit schlechtem Gewissen trat er in den Flur. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben, aber er fühlte sich so unwohl in ihrer Gesellschaft, dass er es nicht über sich brachte, sie danach zu fragen. Der Rest seiner Schicht war besser genutzt, wenn er eine Mitteilung an ihre Eltern verfasste. Die konnten mit ihr reden und herausfinden, was los war.
Bei diesem Gedanken fühlte er sich etwas besser. Wie hätte er auch wissen können, dass das Mädchen nie Besuch bekam?
9 . KAPITEL
SAMSTAG ,
9 . JANUAR 2010
Die Fahrt zum Sogn nahm kein Ende. Die Straßenverhältnisse waren schlecht, Schneegestöber und eisige Glätte. Ihr Ziel schien sich immer weiter zu entfernen, was vermutlich auch an der angespannten Stimmung der Insassen des Wagens lag: Matthias saß am Steuer, während Dóra versuchte, sich mit Jakobs Mutter zu unterhalten. Sie hielt es für sinnvoll, Grímheiður bei ihrem ersten offiziellen Treffen mit ihrem Mandanten dabeizuhaben. Die Frau war wortkarg, saß verschreckt auf dem Rücksitz und klammerte sich an den Deckengriff. Sie erzählte Dóra mit schwacher Stimme, sie hätte noch nicht mal einen Führerschein und sei bei solchem Wetter ziemlich ängstlich, weshalb sie Jakob im Winter auch nur selten besuchen würde. Im Sommer sei es natürlich auch nicht leicht, eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen. Sie hätte nicht viele Freunde, und ihre Verwandten hätten genug mit sich selbst zu tun. Es sei leichter gewesen, als Jakob noch im Heim war, auch wenn sie vom Bus aus ein gutes Stück hätte laufen müssen. Sie bedankte sich herzlich bei Dóra, dass sie sie mitgenommen habe, ihr letzter Besuch liege über einen Monat zurück. Als Dóra das gehört hatte, schwieg sie. Das war seltener, als sie es sich vorgestellt hatte. Trotzdem hoffte sie, dass die Frau nicht allzu große Hoffnungen in diesen Besuch setzte.
Unterwegs fragte Dóra Grímheiður vorsichtig nach ihrem Verhältnis zu dem Anwalt Ari Gunnarsson und bekam erwartungsgemäß die Antwort, es sei ziemlich distanziert gewesen. Mutter und Sohn waren sehr unglücklich mit der Wahl des Verteidigers. Grímheiður erzählte, der Mann hätte nicht das geringste Verständnis für Jakobs Zustand gehabt und ständig etwas von ihm verlangt, was ihn überforderte: Punkte zu notieren, Zeugenaussagen gegenzulesen und zu kommentieren und so weiter. Außerdem sei er ziemlich unverschämt gewesen und hätte sich nicht richtig für Jakob eingesetzt. Dóra fragte sie, warum sie Ari überhaupt ausgewählt hatte. Grímheiður erzählte, Ari hätte sie am Morgen nach dem Brand, als Jakob beim Umherstreunen aufgegriffen worden war und festgenommen werden sollte, angerufen. Die Festnahme war ziemlich kompliziert, da Jakob unmündig war und alle möglichen Leute hinzugezogen werden mussten, darunter auch seine Mutter als sein Vormund. Grímheiður wusste nicht, woher Ari ihre Nummer hatte, und nahm an, dass die Polizei sie ihm gegeben hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie so was normalerweise ablief, und nahm Aris Angebot, ihren Sohn zu verteidigen, sofort an. Zu diesem Zeitpunkt war
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