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Feuernacht

Feuernacht

Titel: Feuernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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durchsehen, und es konnte gut sein, dass dieses Engelverhör dort zu finden war. »War der Koffer grün? Wie Gras?«
    »Ich weiß, wie Gras aussieht«, platzte Jakob heraus und setzte sich wieder auf. »Ich weiß nicht mehr, es war so dunkel.«
    »War er riesengroß oder nur so?« Dóra formte mit den Händen den Umfang eines Benzinkanisters.
    »So, nicht riesengroß.« Plötzlich grinste er bis über beide Ohren. »Mama und ich waren mal in Spanien, und da haben wir einen Koffer gekauft. Der war riesengroß, so, guck mal!« Er breitete seine Arme aus, so weit wie er konnte, ohne vom Stuhl zu fallen. Wenn Jakob die Größe richtig angab, hätten seine Mutter und er problemlos in den Koffer gepasst – ein Zeichen dafür, wie unzuverlässig seine Aussagen waren. Dóra stöhnte innerlich. Kein sehr vertrauenswürdiger Zeuge.
    »Jakob, noch eine Frage. Du musst mir versprechen, die Wahrheit zu sagen, großes Pfadfinderehrenwort!« Dóra streckte drei Finger in die Luft, und Jakob tat es ihr nach. »Hast du das Haus angezündet, vielleicht aus Versehen?« Er schüttelte den Kopf. »Hattest du ein Feuerzug oder Streichhölzer?« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ganz sicher?«
    Jakob schüttelte zum dritten Mal den Kopf, jetzt so eifrig, dass ihm die Haare zu Berge standen. »Nein, nein, nein, nein, ich hatte Angst vor dem Engel und bin weggelaufen. Ich wollte nicht, dass er mich mit in den Himmel nimmt. Ich wollte zu Mama.«
    »Hast du den Koffer mitgenommen?«
    Jakob zögerte und blickte zu seiner Mutter, die beruhigend seine Hand streichelte. »Sag einfach die Wahrheit, mein Junge, du weißt ja, dass die Wahrheit immer das Beste ist.«
    »Ich hab ihn mitgenommen. Der Engel hat ihn verloren, und ich wollte nicht, dass er im Feuer verbrennt. Dann wäre Gott vielleicht böse auf den Engel geworden, und das wäre nicht gut. Ich hab ihn mitgenommen, damit er nicht verbrennt.«
    Bingo. Dóra vertraute ihm, trotz göttlicher Wesen und anderer Ungereimtheiten. »Gut, Jakob, vielen Dank.« Sie lächelte ihm zu, und er lächelte dumpf zurück, wobei seine schrägen Augen noch kleiner wurden. »Hat der Engel etwas gesagt, Jakob? Zu dir oder zu jemand anderem?«
    »Nein, ich konnte nichts hören. Alle haben geschrien, und dann ist was explodiert. Ich glaube, er ist vor dem ganzen Lärm weggelaufen. Engel mögen keinen Lärm. Deshalb wollte er, dass die anderen in den Himmel kommen. Sie haben auf der Erde immer so viel geweint.«
     
    Dóra stand mit Matthias draußen im Flur und war mit dem Verlauf des Gesprächs zufrieden. Nachdem Dóra Jakob noch ein paar Fragen nach dem Leben im Heim gestellt hatte, hatten sie das Wohnzimmer verlassen, damit er noch eine Weile mit seiner Mutter allein sein konnte, bevor sie in die Stadt zurückfuhren. Zweifellos war das alles auch schon bei den Ermittlungen und vor Gericht zur Sprache gekommen, aber nachdem Dóra mit Jakob persönlich gesprochen hatte, fand sie seine Aussagen zwar kindlich, aber durchaus glaubwürdig. In dem Urteil stand nur, Jakobs Beschreibungen seien weit hergeholt und entsprächen seinem geistigen Stand, aber es wurde nicht näher darauf eingegangen. Vielleicht hielt das Gericht es für unwürdig, eine solche Aussage abzudrucken – offenbar durfte man nur Unsinn erzählen, wenn man bei vollem Verstand war. Dóra hatte jedenfalls schon oft Aussagen gelesen, die kaum verständlicher waren, obwohl der Betreffende angeblich einen besseren Realitätssinn hatte.
    »Ich bin mir ganz sicher, dass er unschuldig ist, aber das reicht natürlich nicht, um das Gericht von einer Wiederaufnahme zu überzeugen. Wir brauchen noch mehr relevante Punkte als nur dieses schwangere Mädchen.«
    »Hm.« Matthias schien weniger überzeugt als Dóra. »Du bist manchmal auch ziemlich leicht zu beeinflussen, Dóra. Ich habe das meiste, was er gesagt hat, auch verstanden und würde mir nicht zutrauen, über seine Schuld oder Unschuld zu urteilen.«
    »Ich traue es mir aber zu. Schließlich habe ich nicht umsonst zwei Kinder großgezogen. Ich weiß, wie Kinder lügen. Jakob ist einfach nur ein großes Kind, und ich hatte das Gefühl, dass er ehrlich antwortet. Er ist vielleicht ein bisschen durcheinander, aber ehrlich.«
    »Jakob ist ein erwachsener Mann, Dóra, kein Kind, selbst wenn er zurückgeblieben ist, vergiss das nicht. Deine Kinder haben bestimmt nicht mit Besenstielen um sich geschlagen oder Leute in den Arm gebissen, als sie klein waren.« Darauf wusste Dóra keine Antwort. Gylfi hatte

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