Feuernacht
Telefonate waren nicht sehr aufschlussreich, aber der Fall kam immerhin langsam ins Rollen. Nach den Gesprächen mit den Eltern war sich Dóra ziemlich sicher, dass Sigríður Herdís Logadóttir nichts mit dem Brand zu tun hatte. Sie war blind, gehörlos und geistig stark behindert. Auch Lísa Finnbjörnsdóttir konnte unmöglich die Schuldige sein, und so blieben nur zwei Bewohner übrig: Natan und Tryggvi. Die Eltern erwähnten noch eine interessante Sache, und zwar, dass Tryggvis ungewöhnliche Therapie den Frieden in der Einrichtung gestört hätte und er sich dabei unnötig zu quälen schien. Keiner wollte das detailliert beschreiben, aber Sigríður Herdís’ Mutter hatte sich bei der Leiterin beschwert und ihr gesagt, es sei ihr unangenehm, bei ihren Besuchen Tryggvis Klagen mitanhören zu müssen. Ihre Bitte hatte anscheinend dazu geführt, dass die Therapie in normalere Bahnen gelenkt wurde, zumindest hätte sie danach keinen Lärm mehr gehört. Auf Dóras Nachfrage erklärte sie, das sei drei Wochen vor dem Brand gewesen. Sie und die anderen Eltern kannten den Namen des Therapeuten nicht, aber Dóra nahm an, dass er auf Glódís’ Mitarbeiterliste stand. Dóra beendete das Telefongespräch mit Sigríður Herdís’ Mutter, suchte Glódís’ E-Mail-Adresse heraus und schickte ihr eine Anfrage wegen des Mannes. Er musste Tryggvi ziemlich gut gekannt haben und war hoffentlich bereit, ihr zu erzählen, wie er ihn einschätzte.
Nach diesen Gesprächen war sich Dora unsicher, ob die Bewohner überhaupt etwas mit dem Brand zu tun hatten – vielleicht doch eher die Mitarbeiter oder andere Leute, die sich im Heim gut auskannten? Dóra hatte sich anfangs eher auf die Bewohner konzentriert, weil die Tat so unverhältnismäßig wirkte. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, so viele Menschen verbrennen zu lassen. Wenn die Vertuschung von Lísa Finnbjörnsdóttirs Schwangerschaft das eigentliche Ziel gewesen war, hatte der Täter nicht den besten Weg dafür gewählt, denn er hatte überhaupt nicht versucht, den Brand wie einen Unfall aussehen zu lassen. Da Lísa völlig bewegungsunfähig im Bett lag, wäre es ein Leichtes gewesen, sie zu ersticken. Ein so plötzlicher Tod hätte jedoch eine Obduktion nach sich gezogen, weshalb es wiederum ziemlich unvernünftig gewesen wäre, sie auf diese Weise umzubringen, um ihren Zustand zu vertuschen. Vielleicht ging es ja auch gar nicht darum, die Vergewaltigung zu verbergen, sondern darum, die Aufmerksamkeit von Lísa abzulenken – und deshalb mussten alle anderen Bewohner und der Nachtwächter sterben. Nur merkwürdig, dass niemandem klar gewesen war, dass Lísa ein Kind erwartete. Bei einem Antrag auf Wiederaufnahme des Falls wäre es deshalb problematisch anzuführen, dass der Brand genau dies vertuschen sollte. Natürlich konnte jemand von der Schwangerschaft gewusst haben, aber wie sollte Dóra das beweisen? Laut Glódís hatte das Mädchen eine sehr unregelmäßige Periode und noch keinen Babybauch gehabt. Wie hätte der Täter wissen können, was los war?
Was auch immer der Grund für die Brandstiftung war – das Feuer mit seinen vielen menschlichen Opfern war brutal und sinnlos. Man konnte sich leicht einreden, dass ein geistig Zurückgebliebener am Werk gewesen war, jemand, dem die Folgen seiner Taten nicht bewusst waren. Es sei denn, der Täter wollte genau das: seine Tat so aussehen lassen, als sei sie in geistiger Verwirrung ausgeübt worden. Dóras Gedanken drehten sich immer weiter im Kreis. Wer hatte ihr die Mitteilungen per SMS geschickt und warum? Wer wusste, dass das Brandschutzsystem nicht funktionierte? War es Zufall, dass Jakob und sein unsympathischer Wohltäter Jósteinn vom selben Anwalt vertreten wurden? Hatten Jakobs gemurmelte Worte
sieh mich an
irgendeine Bedeutung? Fühlten sich die Bewohner wegen der Situation im Heim unwohl, ohne dass ihre Eltern es wussten, und hatte das eine Bedeutung für die Lösung des Falls? War es Zufall, dass in der Tatnacht nur eine Nachtwache vor Ort gewesen war, obwohl es normalerweise zwei waren, und wer hatte davon gewusst?
Die Sachlage war nicht nur kompliziert und schwer durchschaubar, es gab auch kaum Beispiele für Anträge auf Wiederaufnahme von Fällen vor dem Höchsten Gericht. Dóra musste sich auf die Gesetzestexte berufen, und die waren zwar eindeutig, aber nicht sehr ausführlich. Es musste mindestens eine von vier Bedingungen erfüllt sein. Diese Bedingungen waren sehr unterschiedlich und
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