Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
benutzen und zu fliegen. Sie regten sich nicht, aber ihre Augen, wenn sie geöffnet waren, blickten tief. Es war, als blicke man durch ihre Augen in einen Himmel, der so groß war, dass die Sterne darin wie grauer Staub im endlosen Schwarz versanken.
Ein Platz von monumentaler Größe tat sich auf, als Gerald zwischen zwei mächtigen, schmucklosen Gebäuden hervortrat und die oberste Stufe einer Treppe erreichte, die so breit war, dass man zu Fuß wahrscheinlich eine halbe Stunde gebraucht hätte, um eine Stufe von ihrem Anfang bis zum Ende entlangzulaufen. Diese unglaublich breite Treppe führte in flachen Stufen hinab auf den Platz, der genauso breit und lang war. Seine Ecken konnte Gerald in der Ferne kaum erkennen.
In der Mitte des Platzes befand sich ein Becken, das vermutlich einmal mit Wasser gefüllt gewesen war und einen See gebildet hatte. Der Untergrund des Beckens war zerstört und darunter waren Mauern aus kleinen Ziegelsteinen zu sehen, die sehr alt und verwinkelt aussahen. Ihre Zerbrechlichkeit und altmodische Machart standen in auffälligem Gegensatz zu den Gebäuden, Straßen und Plätzen der Panzerstadt.
Wieder überfiel Gerald das kalte Grausen angesichts dieser Entdeckung. Es konnte nur so sein, dass sich die Tür, die nach Amuylett geführt hatte, irgendwo da unten befunden hatte. An einem alten Ort mit verwinkelten Gängen und baufälligen Mauern. Um den alten Ort zu schützen, zu bewachen und abzuschirmen, war darüber die Panzerstadt errichtet worden. Die Panzerstadt und all die Schutzwälle, Gräben und Schießanlagen, die Gerald vom Gipfel des hohen Berges aus gesehen hatte.
Für Gerald war klar, dass er ins Innere dieser alten Mauern hinabsteigen musste. Doch ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er merkte, dass ihn allmählich die Kräfte verließen. Die Kräfte und die unbedingte Konzentration, die erforderlich war, damit er den Zustand der Unangreifbarkeit für keinen noch so kurzen Augenblick verließ.
Eiliger und unvorsichtiger als bisher in dieser Panzerstadt bewegte er sich auf das zerstörte Becken in der Mitte des Platzes zu und ließ sich hinabsinken in die Tiefe, in ein wahrhaftes Labyrinth aus krummen und schiefen Mauern einer anderen Zeit. Das Erstaunliche an diesen Mauern war, dass sie sich einen Überrest von Farbe bewahrt hatten. Bisher war alles in dieser Welt ausnahmslos schwarz gewesen. Doch diese Mauern waren der Schwärze zu einem großen Teil entgangen. Sie wirkten verblasst, doch es war noch Farbe erhalten, ein schwaches Rotbraun, eine Helligkeit, wo einmal weißer Putz gewesen war, braune, ausgebleichte Holzstreben.
Diese Entdeckung machte Gerald so aufgeregt, dass er um seinen Zustand fürchtete. Er konnte nicht bleiben, er durfte sich dieser Aufregung nicht länger aussetzen. Wenn er nicht sofort aufbrach und in die Spiegelwelt zurückkehrte, würde ihn seine Neugier umbringen! Doch er wollte zu gerne wissen, wohin ihn diese Räume, die es geschafft hatten, ihre Farbe zu bewahren, bringen würden. Es war doch kein Wunder, dass Geraldines verlorene Seele hier Zuflucht gesucht hatte.
Nach einem kurzen Moment des Zwiespalts, in dem der Zustand der Unangreifbarkeit gefährlich bebte und zitterte, folgte Gerald der Stimme seiner Vernunft und kletterte aus der Tiefe wieder nach oben auf den Platz. Hier sammelte er sich noch einmal für den Rückweg: Alles zusammennehmen, jeden Gedanken an seine gewohnte Form aufgeben – und los ging es! Durch die Erde, unter dem Gebirge hindurch, von Gestein zu Gestein und von Erdscholle zu Erdscholle. Ein Wegstück nach dem anderen brachte er hinter sich, bis er in die Nähe des Ausgangs kam.
Hier wurde er langsamer, stieg behutsam auf und kam reichlich zittrig in passablem Abstand zur Tür wieder aus dem Boden hervor. Die letzten Schritte in Richtung der Spiegelwelt fielen ihm auf einmal schrecklich schwer. Als hätte er tatsächlich Beine und schwere Gewichte, die daran hingen und ihn zu Boden zogen. Es war der Verlust der Schnelligkeit und der Leichtigkeit, die ihm so zusetzte, und ihm wurde klar, dass er maßvoller mit seinem Talent umgehen musste. Denn was wie ein winziges Stück Weg aussah – die wenigen letzten Schritte bis zur Tür – zog sich hin wie in einem schlechten Traum, wenn man vorwärtskommen will, aber wie festgewurzelt ist. Langsam, mit großer Anstrengung, immer schwächer werdend, kämpfte er sich auf die Tür zu, sah Grohanns Umrisse auf der anderen Seite, das Licht der Spiegelwelt.
Im letzten Moment
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