Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
seiner neuen Rolle voll aufgegangen. Er setzte sich zu Geraldine in die Bank, stellte sich förmlich vor, erzählte ihr lauthals die tollsten Geschichten aus seinem falschen Leben, fragte sie aus und tat gnadenlos überrascht, als sie ihm erklärte, sie könne sich unsichtbar machen – dabei wusste er das doch besser als jeder andere. Geraldine hätte ihn am liebsten geohrfeigt und angebrüllt. Musste er so dick auftragen? Warum machte es ihm so viel Spaß, einen Fremden zu spielen und nicht mehr ihr Bruder zu sein?
Auf der Fahrt von Quarzburg nach Sumpfloch war Geraldine immer wütender geworden. Doch nur, damit sie nicht weinen musste. Es war leichter, auf Gangwolf ärgerlich zu sein, als sich einzugestehen, dass diese neue Schule ein weiterer großer Schritt war auf dem Weg, der sie von ihrer Heimat trennte. Es machte sie traurig, hier zur Schule zu gehen und nicht dort, wo sie aufgewachsen war. Gangwolf hingegen machte es gar nicht traurig. Er war prächtig gelaunt an diesem Tag, aufgekratzt und zu Späßen aufgelegt. Deswegen war sie so schnippisch zu ihm. Als sie Viego später einmal davon erzählte, verstand er sie. So, wie er sie immer verstand, der blasse Halbvampir mit den alles verzehrenden schwarzen Augen.
„Was ist los, Viego?“, fragte Ritter Gangwolf, da der Halbvampir so schweigsam in die Nacht hinausstarrte. „Denkst du, ich werde nicht rechtzeitig kommen? Ich verspreche es hoch und heilig! In drei Tagen liefere ich die Mädchen in Sumpfloch ab. Und mich selbst auch, wenn es denn unbedingt sein muss. Aber es ist mir nicht geheuer. Was will Grohann von mir? Warum ist meine Anwesenheit so dringend erforderlich?“
„Es geht um die Türen“, sagte Viego fast geistesabwesend. Er hing immer noch der Vergangenheit nach. Geraldine. „Im Treppenhaus in Marias Spiegelwelt. Du sollst ihm sagen, wohin sie führen. Er meint, einige davon könnten gefährlich sein. Wir könnten sogar angegriffen werden.“
„Ach, Unsinn!“, widersprach Gangwolf. „Jeder Mensch und jedes Wesen hat eine natürliche Abneigung gegen Weltengrenzen. Man sieht solche Türen nicht, man benutzt sie nicht freiwillig. Jedenfalls nicht in eine fremde Richtung. Da muss eine Tür schon sperrangelweit aufstehen, damit ein gewöhnlicher Mensch sie durchschreiten kann.“
„Das sagst du. Aber es könnte auch anders sein. Mir ist es auch lieber, du erforschst dieses merkwürdige Treppenhaus. Niemand mag es. Es ist ein unangenehmer Ort.“
„Ich habe dir gerade erklärt, warum. Es sind die Weltengrenzen, die euch beunruhigen.“
„Mag sein. Aber du wirst dich nicht weigern, uns zu helfen. Dir bricht dabei kein Zacken aus der Krone.“
„Ich bin nicht gerne in Sumpfloch“, sagte Gangwolf und hob dabei sein Glas, das mit schwarzem Tox gefüllt war. Er hielt es gegen den Himmel, sodass sich die Sterne darin spiegelten. „Es erinnert mich zu sehr.“
„Was soll ich da sagen?“
„Du bist es gewohnt. Du tust dir das seit Jahren an. Aber ich denke, ich muss ersticken, wenn ich diese Luft einatme. Die Sümpfe, die klammen Säle und Flure. Ich höre ihre Stimme, es ist, als wäre sie nur einen Gang von mir entfernt, als stünde sie hinter der nächsten Ecke. Ich höre sie, aber sie ist nicht da. Es ist meine Schuld, Viego. Wir beide wissen das.“
„Wir haben schon oft darüber gesprochen. Du hast einen Fehler gemacht, aber du warst es nicht, der ihr das angetan hat!“
„Ohne meinen Fehler wäre sie noch am Leben.“
„Das weißt du nicht!“
„Ich weiß es nicht, aber es quält mich“, sagte Gangwolf. „Manchmal denke ich, das Schicksal wollte mich bestrafen, als es meinem Sohn ihr Gesicht gegeben hat und ihr Talent. Warum muss Gerald jetzt all das auf sich nehmen, was sie ursprünglich von ihr verlangt haben? Ist das nicht ein Hohn?“
„Er macht seine Sache sehr gut.“
„Natürlich macht er das! Er ist ja wie sie! Wenn sie ihr Zeit gelassen hätten, wenn sie noch leben würde, dann hätte sie all das gelernt, was er jetzt kann. Und er hätte seinen Frieden.“
„Das stimmt nicht, Gangwolf. Er wäre das dritte Erdenkind und nicht das zweite.“
„Vielleicht hätte ich ihn nie nach Amuylett geholt.“
„Doch, das hättest du. Nimm es, wie es ist. Und sei dem Schicksal dankbar, dass wir in seinen Augen Geraldine wiedererkennen. Er ist so ein großartiger Junge! Wenn wir uns auf jemanden verlassen können, dann auf ihn.“
„Er ist besser als ich“, sagte Gangwolf. „Sie war auch besser als ich. All
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