Feuerscherben
für sie sein.
»Ist das die ganze Nachricht?«, fragte Roger.
»Beinahe. Ben hat mir mitgeteilt, dass er gegen neun Uhr bei mir sein will. Sag ihm bitte, dass ich ihm sehr dankbar wäre, wenn er etwas früher kommen könnte.«
»In Ordnung«, antwortete Roger. Er zögerte einen Moment, und Claire spürte, dass er innerlich mit sich rang, was wichtiger war: seine Arbeit oder das Bedürfnis, mit ihr zu sprechen. Am Ende fand er einen Kompromiss. »Hör mal, Claire. Es gibt so vieles, worüber wir reden müssten. Als das Blockhaus niederbrannte … Als du verschwandst, war ich erst fünfzehn, noch dazu ein ziemlich unreifer Fünfzehnjähriger. Ich glaube, es wäre für uns beide sehr hilfreich, wenn wir einmal offen über manche Dinge in unserer Familie sprechen könnten.«
»Das wäre mir sehr recht«, antwortete Claire. »Du kannst gern ein Wochenende zu mir kommen, Roger. Nenn mir das Datum, und ich halte mir den Termin frei. Boston ist eine sehr schöne Stadt. Ein Besuch lohnt sich bestimmt. Ich bin sicher, wir hätten viel Spaß.«
»Das wäre fabelhaft«, sagte er. »Du könntest aber auch nach Pittsburgh fliegen. Ja, ich finde, du solltest zu uns kommen. Du möchtest das alte Haus sicher gern wiedersehen. Dad droht ständig damit, die Villa zu verkaufen, und ich rede es ihm immer wieder aus.« Er brach ab, und Claire hörte, dass ein weiteres Telefon im Zimmer läutete. »Hör zu, Claire, bei uns ist heute die Hölle los. Ich muss weitermachen. Wir bleiben in Verbindung, einverstanden?«
»Natürlich. Geh an den anderen Apparat, Roger«, sagte sie. »Wir telefonieren nächste Woche wieder.«
So kurz das Gespräch mit ihrem Bruder gewesen war, anschließend fühlte Claire sich erheblich besser. Plötzlich hatte sie den unbezwingbaren Wunsch, bei allen Beziehungen reinen Tisch zu machen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Deshalb rief sie Sonya nicht an, sondern beschloss, die Freundin im Büro zu besuchen und ihr von Andrews Kommen zu erzählen.
Sie fuhr über den Fluss zum »Boston Globe« und nahm den unvermeidlichen Verkehrsstau in Kauf. Sie kurbelte die Seitenscheibe hinunter, kümmerte sich nicht um die Abgase und genoss den schönen Tag. Eine kühle Brise wehte vom Hafen herüber. Sie jagte die Wolken über den Himmel und vertrieb den feuchten Sommerdunst. Vor einem Thai-Restaurant an der Ecke der Henderson Street hielt Claire an und kaufte zwei Portionen ihres Lieblingsgerichts aus Shrimps und Gemüse. Innerhalb von fünf Minuten fand sie einen Parkplatz, fuhr hinauf zur Redaktion und ging zu der winzigen Zelle abseits des Nachrichtenraums, in der sich Sonyas Büro befand.
»Schön dich zu sehen, Kindchen!«, begrüßte Sonya sie strahlend durch eine Rauchwolke. »Komm herein«, forderte sie die Freundin auf und schob drei leere Bierdosen und einen Stapel Bücher in eine Ecke des Schreibtischs, damit Claire die Sachen absetzen konnte.
»Hast du ein bisschen Zeit zum Lunch?«, fragte Claire. »Ich habe uns etwas mitgebracht.«
»Zum Essen finde ich immer Zeit«, versicherte Sonya ihr und schnupperte anerkennend. »Aha, du hast dich mal wieder selbst übertroffen. Ich erkenne die hübschen weißen Schachteln des Thai-Garden-Restaurants in der Papiertüte.«
»Krabben mit Knoblauch, Erbsenschoten mit Walnüssen und Kümmelreis«, verkündete Claire und stellte die Schachteln auf die mitgebrachten Papierservietten.
»Du musst gehört haben, dass mein Magen schon den ganzen Morgen knurrt.« Sonya verteilte die Plastikteller und die Gabeln. »Was führt dich hierher, Di?«
»Andrew Campbell hat mich vorhin angerufen. Er will mich heute Abend besuchen. Er möchte, dass wir beide ganz allein sind. Nur er und ich – sozusagen Auge in Auge gegenüber.«
Sonya hielt mitten in der Bewegung inne. »Weshalb kommt er her? Um über das Interview von Steve Sterne zu jammern?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ehrlich gesagt, ich habe den Eindruck, dass der Rücktritt von der Kandidatur zum Gouverneur im Moment nicht sein wichtigstes Problem ist.«
»Was zum Teufel will er dann?«
»Er möchte sich mit mir über den Brand in Vermont und all die Zwischenfälle unterhalten, die anschließend passiert sind.«
»Merkwürdig«, meinte Sonya und spießte eine Krabbe auf. »Weshalb will er die alten Geschichten ausgerechnet mit dir besprechen? Soll ich nicht lieber zu dir kommen und auf dich aufpassen?«
»Nein, danke. Ich wollte nur, dass du von seinem Besuch weißt.« Claire zerkaute eine gebratene
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