Feuerscherben
»Weshalb in aller Welt hast du eingewilligt, bei den Campbells zu wohnen? Meinst du, du bist dort sicher?«
Dianna zuckte innerlich zusammen. Diese Bemerkung gehörte nicht zum Drehbuch. Wenn sie es genau bedachte, ging das Gespräch mit Sonya längst weit über die Grenzen hinaus, auf die sie sich vorher geeinigt hatten. »Du weißt genau, weshalb ich hier bin«, erwiderte sie. »Ich habe Hal in deinem Haus kennengelernt und dir erzählt, wie es weitergegangen ist. Du kennst die Argumente, mit denen er mich überzeugt hat, nach Hause zurückzukehren und mein Erbe anzutreten.«
Das war ungefährlich, selbst wenn jemand zuhörte. Sie hatte nie verheimlicht, woher sie Hal kannte. Aber niemand – nicht einmal Hal oder Sonya – ahnte, dass sie zwei Wochen lang alles darangesetzt hatte, mit diesem Mann »zufällig« auf einer von Sonyas berüchtigten Partys zusammenzutreffen.
»Du irrst dich. Ich habe keine Ahnung, weshalb du da unten bist«, antwortete Sonya. »Ich weiß nur, was du mir erzählt hast. Und das macht absolut keinen Sinn. In meinen optimistischen Momenten versuche ich mir einzureden, dass zumindest ein Körnchen Wahrheit darin enthalten sein müsste.«
Dianna stand auf, und ihr wurde ganz elend im Magen. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie schön es gewesen war, sich einige Minuten sorglos mit der Freundin zu unterhalten. »Ich verlasse mich auf dich, Sonya. Ich … ich kann deine ganzen Fragen jetzt nicht beantworten. Aber ich brauche die nächsten Wochen deine Hilfe, wenn ich durchhalten soll.«
»Ja, ich weiß.« Wieder entstand eine dieser beunruhigenden Pausen. »Nun, wir sind Freundinnen. Ich glaube, ich habe verstanden.«
»Danke. Ich werde dir bald alles erklären.« Es klopfte an der Vordertür, und Dianna sah hinüber. Deprimiert erkannte sie, dass sie richtig froh darüber war, das Gespräch mit ihrer besten Freundin beenden zu müssen. Es war zum Verzweifeln. Weshalb hatte sie sich nicht überwinden können, Sonya alles anzuvertrauen, bevor sie Boston verließ?
»Es ist jemand an der Tür, Sonya. Ich muss auflegen. Ich rufe dich in einigen Tagen wieder an.«
»Ich erwarte deinen Anruf. Noch etwas, Dianna … «
»Ja?«
»Pass gut auf dich auf.«
Was hieß das genau? »Ja, bestimmt. Bis später.« Verwirrt legte Dianna den Hörer auf und eilte zur Tür. Durch die Glasscheibe erkannte sie die schattigen Umrisse zweier Männer. »Wer ist da?«, rief sie.
»Ben Maxwell. Kann ich Sie einen Moment sprechen?«
Ben mit einem Begleiter … Offensichtlich sollte sie jemanden identifizieren, während Hal nicht zu ihrer Unterstützung im Haus war. Der Gedanke, sich mit Ben Maxwells Intelligenz zu messen, war ausgesprochen verlockend. Dianna holte tief Luft und öffnete die Tür.
Ben betrat das Wohnzimmer, gefolgt von einem jungen Mann von Anfang zwanzig. Falls Ben wirklich prüfen wollte, ob sie Leute aus Claires Vergangenheit wiedererkannte, hatte er keinen guten Testkandidaten gewählt. Der junge Mann war groß und breitschultrig. Er hatte blaue Augen und dichtes hellbraunes Haar, das im Nacken kurz geschnitten war und in einer sorgfältig gekämmten weichen Welle über seine Stirn fiel. Ein hervorragendes Beispiel für gutes Aussehen, verbunden mit teurem Styling, dachte Dianna belustigt. Die leichte Hakennase verhinderte, dass er nur gut aussah, und verlieh ihm etwas Interessantes. Der junge Mann ähnelte Andrew Campbell derart, dass es eine Kleinigkeit gewesen wäre, den Sohn des Hauses zu erkennen, selbst wenn sich nicht ein halbes Dutzend Fotos von ihm in Hal Dohertys Unterlagen befunden hätten.
»Hallo, Roger«, sagte Dianna herzlich und strahlte ihn an. »Du bist ganz schon gewachsen.«
Der junge Mann betrachtete sie mit unverhohlenem Interesse. Er reagierte weder verhalten feindselig wie Ben, noch zutiefst erschrocken wie sein Vater. »Seltsam«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Ich war sicher, ich wüsste auf der Stelle, ob Sie die echte Claire sind oder eine Betrügerin. Aber es klappt irgendwie nicht. Sie sehen aus wie meine Schwester – doch die Schwingungen sind nicht da. Sie machen nicht den Eindruck, als wären Sie meine Schwester. Zumindest empfinde ich es nicht so.« Verwirrt zuckte er die Schultern. »Ich bin mir wirklich nicht sicher.«
Ich muss näher am Ende meiner Nervenkraft sein, als mir bewusst war, überlegte Dianna. Oder ich bin nach dieser beinahe schlaflosen Woche restlos erschöpft. Der Anblick des jungen Mannes rief ein ganzes Bündel
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