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Feuerscherben

Feuerscherben

Titel: Feuerscherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasmine Cresswell
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und mit den Fingerspitzen nach den winzigen Winkeln und Rillen des Musters tastete, dass sie liebevoll graviert hatte.
    Die Schale bestand aus Bleikristall und hatte einen Durchmesser von vierundzwanzig Zentimeter. Sie hatte die ganze Fläche mit einer idealisierten Winterszene verziert und sich dabei auf Erinnerungen an die früheste Kindheit gestützt.
    Das Glas war kristallklar und absolut farblos. Dianna hatte die Zeichnung in die Oberfläche geätzt und graviert, sodass die undurchsichtigen Stellen und die haarfeinen Linien einen Eindruck von Tiefe und Räumlichkeit erzeugten. Die Schale war handwerklich perfekt. Aber nicht deshalb liebte Dianna sie so sehr. Sie spürte, dass sie sich mit dieser Schale den Traum eines jeden Künstlers erfüllt hatte: Ihr war etwas gelungen, das mehr war als nur die Darstellung der winterlichen Wälder in Vermont. Wenn sie die Schale betrachtete, hatte sie das Gefühl, die wahre Stimmung einer Schneenacht im Gebirge erfasst zu haben, wenn der Himmel endlos ist und die ganze Welt den Atem anzuhalten scheint in Erwartung der Dämmerung und eines herrlichen neuen Morgens im winterlichen Sonnenschein. Für ihre Zeichnung hatte sie eine stille Nacht ohne das geringste Anzeichen menschlichen oder tierischen Lebens gewählt. Doch sie wusste, dass irgendwo in der Tiefe der Wälder Rehe und Hirsche, Eichhörnchen und Hasen darauf warteten, sich in der Mitwintersonne wärmen zu können.
    Dianna hatte die Arbeit noch niemandem gezeigt, nicht einmal Sonya, auf deren Urteil sie sich normalerweise verlassen konnte. Aus einem unerfindlichen Grund freute sie sich, dass Ben sie als Erster zu sehen bekam. Sie stellte die Schale auf die Anrichte, trat zurück und spürte ein nervöses Flattern im Bauch, während er ihr Werk betrachtete. Sie wusste, dass die Arbeit gut war. Sie spürte es in tiefster Seele. Aber sie wünschte, Ben würde die Schale nicht nur loben. Er sollte ihr nicht höflich versichern, wie hübsch ihre Arbeit wäre. Sie wünschte, er würde mit dem Herzen darauf reagieren. Er würde die Reinheit der eiskalten Nacht und die Hoffnung auf das Ende des Winters spüren. Er würde dieselbe innere Erregung empfinden, die sie bei der Arbeit an diesem Werk durchströmt hatte.
    Ben schwieg lange. Endlich streckte er die Hand aus und strich langsam über die rauen Stellen, die die Illusion von schäumendem Wasser in dem eisigen plätschernden Bach hervorriefen. Er folgte dem Lauf des Flüsschens und hielt unter einer hohen Tanne inne. »Hinter diesem Felsen versteckt sich ein Kaninchen in seinem Bau«, sagte er. »Ich weiß genau, dass es dort ist. Es wartet auf den Morgen, damit es aufwachen und die Winterfreuden genießen kann.«
    Dianna war unendlich erleichtert, dass Ben ebenso wie sie das verborgene Leben in der Einsamkeit der Wälder spürte. Sie wandte sich ab und legte die Arme schützend um ihren Körper. Sie wollte Ben nicht ansehen, denn er durfte auf keinen Fall merken, wie wichtig ihr seine Reaktion war.
    »Tut mir leid, Dianna«, sagte Ben hinter ihr, und seine Stimme klang vor Verlegenheit belegt. »Ich wollte Sie nicht kränken. Die Schale ist hübsch, sogar wunderschön. Bitte entschuldigen Sie, dass ich so wenig davon verstehe. Ich hatte nie Gelegenheit, mich näher mit Kunst zu befassen. Deshalb habe ich ganz instinktiv darauf reagiert. Bitte verzeihen Sie, wenn ich etwas Falsches gesagt habe.«
    »Sie haben nichts Falsches gesagt.« Dianna musste sich unwahrscheinlich zusammenreißen, um nicht loszuheulen. Nach dem Streit mit Sonya, Hals Versuch, ihr Atelier zu zerstören und Bens unerwartetem Auftauchen hatte sie das Gefühl, seit Stunden auf einem Hochseil über einer Schlangengrube zu balancieren. Ihre Gemütsverfassung war ziemlich verworren, müde ausgedrückt. Sie hatte Angst, noch etwas zu sagen. Jedes Mal, wenn sie mit Ben redete, verriet sie erheblich mehr über sich, als gut für sie war.
    Ben legte die Hände auf ihre Schultern. Sie fühlte seine warmen Finger durch den feinen Stoff ihrer Sommerbluse. Ein heißer Schauer durchrieselte ihre Adern und erreichte auch jene zu Eis erstarrte Stelle tief in ihrem Innern, wo sie die unerträglichen Erinnerungen verbarg. Einen Moment flammte der alte Schmerz wieder auf. Doch Ben streichelte zärtlich ihre Schultern und linderte ihre Qual. Sie keuchte vor Lust und Verzweiflung. Vielleicht war es auch ein sehnsüchtiger Aufschrei. Dianna wusste es selber nicht.
    »Habe ich Ihnen wehgetan?«, fragte Ben leise. Die

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