Feuersee
»Dieses Gemach ist heilig. Wer hier Gewalt
übt, besiegelt sein eigenes
Schicksal.«
»… sein eigenes Schicksal
…«
Kleitus wandte sich in die Richtung der neuen
Stimme. Beim Anblick des grauenerregenden Antlitzes der jungen Herzogin
wurden
seine Augen schmal. Pons wich verstört zurück und
suchte Zuflucht in den Reihen
der Wiedergänger.
»Woher weißt du, was die Toten
denken?« fragte
der Herrscher, während er die Lazar forschend musterte. Die
Runen! ermahnte
Alfred sich streng und begann sie in Gedanken zu verknüpfen.
Ja, ja. Die Sigel
über der Tür leuchteten auf, verströmten
einen mattblauen Schimmer.
»Ich kann mit ihnen reden. Ich verstehe ihre
Gedanken, ihre Bedürfnisse, ihre
Sehnsüchte.«
»Bah! Die Toten denken nichts! Brauchen nichts!
Ersehnen nichts!«
»Du irrst«, erwiderte die Lazar mit der
hohlen
Stimme, die Pons solches Entsetzen einflößte,
daß ihm ein eiskalter Schauer
über den Rücken lief. »Die Toten begehren
eins: ihre Freiheit. Wir werden frei
sein, wenn unsere Tyrannen tot sind!«
»… Tyrannen tot sind
…«
Ohne sie aus den Augen zu lassen, wandte Kleitus
sich an seinen Kanzler. »Ihr seht, Pons«,
erklärte er mit sichtlich gezwungener
Nonchalance, »die teure Herzogin ist eine Lazar geworden. Das
geschieht, wenn
die Toten zu bald wiedererweckt werden. Jetzt erkennt Ihr die Weisheit
unserer
Ahnen, die lehrten, daß der Leichnam ruhen muß, bis
der Schemen sich von ihm
gelöst hat. Wir werden ein wenig experimentieren
müssen. Die Bücher empfehlen,
daß in einem solchen Fall der Körper erneut
›getötet‹ werden soll. Auch wenn
Wir nicht unbedingt glauben …« Der Herrscher
verstummte, dann zuckte er mit den
Schultern. »Aber Wir werden noch Gelegenheit haben, Uns mit
diesem Thema zu
befassen. Wachen, ergreift sie!«
Das angedeutete, furchteinflößende
Lächeln
spielte um die blauen Lippen, die Lazar begann zu singen.
Im ersten Moment schien es, daß Kleitus’
Befehl
diesmal befolgt wurde, denn die Reihen der Wiedergänger
gerieten in Bewegung.
Die Nebelgestalten der Schemen verschwanden plötzlich; in
toten Augen glomm
Leben; tote Arme reckten sich; tote Hände schwangen Waffen,
aber nicht gegen
die Lazar. Fahle Gesichter wandten sich Kleitus und seinem Minister zu;
in
toten Hirnen begann dumpfer Haß zu schwelen, ein vages
Bewußtsein erlittenen
Unrechts.
Pons krallte die Hand in des Herrschers schwarze
Robe. »Euer Majestät! Es ist dieses verfluchte
Gemach! Versiegelt es! Sperrt
sie alle darin ein! Hoheit, ich flehe Euch an!«
Die von Alfred beschworenen Runen strahlten
hell, die Tür begann sich schwerfällig zu
öffnen. Endlich! Es war ihm gelungen,
etwas richtig zu machen!
»Haplo …«
Eine Bewegung ließ Alfred herumfahren.
Kleitus hatte einem Soldaten den Bogen
entrissen.
… Er sah einen Pfeil auf sich weisen. Das
Gesicht des Mannes dahinter war von einer Wut verzerrt, die aus Angst
erwächst.
Alfred vermochte sich nicht zu rühren. Selbst wenn er gewollt
hätte, wäre er
nicht imstande gewesen, sich zu schützen …
»Keine Gewalt!«
… der Mann zog die Sehne zurück
und spähte am
Pfeilschaft entlang. Alfred wartete auf den Tod. Nicht etwa
heldenmütig, wurde
ihm traurig bewußt, sondern wie ein Narr.
Eine starke Hand versetzte ihm einen heftigen
Stoß in den Rücken, und er fiel …
Rote Helligkeit erfüllte den Raum, blendete die
Augen wie eine Stichflamme, überschwemmte das Gehirn mit
Feuer.
Alfred kroch auf Händen und Knien über den
Boden, neben sich den warmen Leib des Hundes. Eine Hand packte ihn am
Kragen
und riß ihn in die Höhe. Eine barsche Stimme schrie
ihm ins Ohr: »Jetzt sind
wir quitt, Sartan!« Dieselbe Hand hob ihn zur Tür,
die sich langsam wieder
schloß.
»Lauf, verdammt!«
Alfred setzte sich taumelnd in Bewegung. Er lief
durch Feuer und Rauch. Alles ringsumher stand in Flammen, brannte
lichterloh:
Prinz Edmund, Jonathan, Haplo, der Hund, die Wände aus Fels,
der Steinboden,
die Tür …
Haplo warf sich durch den schmalen Spalt und
zerrte Alfred hinter sich her. Der Sartan fühlte die steinerne
Masse der Tür im
Rücken, die sich unaufhaltsam weiterbewegte. Trotz der Gefahr,
der er um
Haaresbreite entronnen war, empfand er den tiefen Schmerz eines
unersetzlichen
Verlustes. Er ließ etwas Wundervollen zurück, etwas
von ungeheurem Wert, etwas
…
»… erst wenn die Lebenden tot
sind!« gellte die
Stimme
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