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Feuersteins Ersatzbuch

Feuersteins Ersatzbuch

Titel: Feuersteins Ersatzbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Feuerstein
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Städten wirken sie nicht anders als sonstwo in England, und auf dem Land sind sie gar nicht erst vorhanden. Vor allem der Norden ist unglaublich menschenleer. Man fährt auf endlos sich windenden Straßen durchs Land, und wenn nach Stunden endlich ein Dorf kommt, scheint es ausgestorben zu sein. Selbst Häuser mit Rauchfahnen aus dem übergroßen Schornstein wirken unbewohnt.
    Es ist vor allem die Landschaft. Sie hat zwar, von der Nordküste abgesehen, wenig Dramatisches zu bieten wie etwa die Wüste oder die Alpen, ist aber so intensiv, dass man sie in bleibender Erinnerung behält: Die Hügel sind runder als rund, die Wiesen grüner als grün, und ständig geht es steil rauf oder runter. Daran ist das Meer schuld, das an ganz unvermuteten Stellen mitten im Land auftaucht und die Straßen zwingt, immer wieder unten anzufangen, bei Null. Dadurch wachsen die Hügel zu Gebirgen, obwohl der höchste Gipfel Schottlands, der Ben Nevis in den Grampian Mountains, nicht mal 1400 Meter misst. Sitzriesen könnte man diese Erhebungen nennen.
    Es ist eine melancholische Landschaft, von Dichtern schon bis zum Weinkrampf zersungen, aber gleichzeitig ist sie hart und alt wie der Fels, auf dem sie steht: Er zählt zum ältesten Gestein der Erde, vor drei Milliarden Jahren geboren, einst Teil des Urkontinents, der Nordamerika mit Skandinavien verbunden hat. Urgestein also, das härter und dichter ist als anderswo und deshalb bestimmt auch mehr Anziehungskraft ausübt, was nicht nur die Erdenschwere für Mensch und Tier erhöht, sondern auch die Sprache so schwer macht. Allein die Ortsnamen ziehen einen tief in den Boden hinein: Carlbhagh, Inchnadamph, Stadhlaigearraidh, das führt zu Lauten, wie man sie sonst nur von den Galloways hört, den dunkel gelockten Urrindern Schottlands, die aussehen wie eine Kreuzung von Reinhold Messner und einem Yeti. Und wenn heute nur noch ein Prozent der Bevölkerung gälisch spricht, liegt das sicher daran, dass die meisten schon beim ersten Wort von der Erde aufgesogen wurden.
    Ich liebe diese Landschaft. Sie hat etwas Lustvoll-Schauriges, man fühlt sich unwohl und heimelig zugleich, eine Atmosphäre, die ich nur zu gut kenne: meine Wohnung. Fühle ich mich deshalb in Schottland zu Hause?
    Ganz bestimmt nicht, denn ich fühle mich nirgends zu Hause. Zugegeben, bei meinen Spaziergängen in den Alpentälern, wo ich zwischen Geröll und Lawinen geboren wurde, spüre ich manchmal ein Prickeln in den Fußsohlen, als suchten sie durch die Schuhe hindurch Verbindung mit dem Boden, und ich muss dann meine Schritte beschleunigen, um nicht an Ort und Stelle Wurzeln zu schlagen. Trotzdem ist mir das Wort »Heimat« fremd. Wo immer ich bin, fühle ich mich unwohl und spüre, dass ich da nicht hingehöre. Ich habe es deshalb stets vorgezogen, dort zu leben, wo ich wirklich nicht hingehöre; da lässt sich das Unwohlsein besser begründen. Wäre ich Engländer, wäre Schottland geradezu die Erfüllung dieses Bedürfnisses: Nirgendwo könnte ich mich besser unwohl fühlen, nirgendwo gehörte ich weniger hin — jedenfalls aus der Sicht der Schotten. Und damit sind wir beim Thema »schottische Seele«.
    Das Erbgut der Schotten enthält eine einmalige Mischung europäischer Gendefekte: die Rauflust der Bayern, die Sturheit der Holländer, die Sentimentalität der Polen und die Nekrophilie der Österreicher, um nur die wichtigsten zu nennen. Da diese Verwerfungen umso besser gedeihen, je größer der Leidensdruck ist, brauchen ihre Träger zwangsläufig eine anonyme, finstere Macht, gegen die sie sich lebenslang wehren können, natürlich ohne die geringste Aussicht auf Erfolg. Bei mir war es die Mutter, bei den Schotten sind es die Engländer.
    Die Geschichte Schottlands ist ein einziges Hauen und Stechen, und wenn es Frieden an den äußeren Grenzen gab, prügelten sie sich untereinander. Dabei gehörten die Schotten eigentlich auch nicht »da hin«. Ursprünglich kamen sie aus Irland und verdrängten die einheimischen Pikten, die »bemalten Männer«, wie sie Tacitus wegen ihrer blauen Tätowierung nannte. Für die Römer waren die Schotten nicht zivilisierbar, weshalb sie das taten, was sich schon gegen die ebenfalls nicht gesellschaftsfähigen Germanen als wirksam erwiesen hatte: Sie bauten eine Mauer, Hadrians wall, die Barriere gegen die Barbarei.
    Hinter dieser Mauer dürfte es ziemlich heftig zugegangen sein: Jeder Clan war dem anderen spinnefeind. Man mordete, plünderte und stahl sich die Frauen, und

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