Feuersteins Ersatzbuch
war, und da bei den Armen der Dritten Welt die einzige Altersversorgung darin besteht, viele Kinder zu haben, die sich später um sie kümmern müssen, gab es hinter Anna bereits ein neues Brüderlein, und zwei weitere Geschwister sollten noch folgen. Alle natürlich von verschiedenen Vätern, die sich — ebenso natürlich unter diesen Umständen — allesamt längst aus dem Staub gemacht hatten.
Die liebevoll handgeschriebenen Briefe, mit denen mich die örtlichen Mitarbeiter der Hilfsorganisation alle paar Monate über Annas Werdegang informierten, machten mich neugierig, und als nach zwei Jahren ihr erster handgeschriebener Krakel-Gruß mit Blümchen und Herzchen kam, beschloss ich, selber vor Ort nachzusehen.
Ich saß im Veranda-Café des schaurig-schönen »Manor«-Hotels von Mombasa (heute abgerissen), einen Riesenkrug mit Passion-Fruit -Saft auf dem Tisch, als die Dreiergruppe eintraf, mein Empfangskomitee für die »dunkel lockende Welt«, die für mich in diesem Augenblick trotz aller Kitschseligkeit Wirklichkeit wurde und mich für lange Zeit nicht mehr loslassen sollte: Mr Tsuma, der Projektleiter, feierlich-würdevoll in einem viel zu großen schwarzen Anzug, der um seinen dürren Körper schlotterte, die immer fröhliche Schwester Elizabeth in blauer Bluse mit Blümchenrock und in der Mitte Anna im weißen Kommunionkleid, sieben Jahre alt und so schrecklich verlegen, dass sie mich immer nur anzuschauen wagte, wenn ich wegsah. Umgekehrt übrigens auch.
Das Gespräch kam nur mühsam in Gang. Denn aus Höflichkeit und Respekt beschränkten sich die beiden Begleiter auf die arabisch geprägten Regeln der ersten Begegnung, die nur den Austausch von Phrasen über Wohlergehen, Reiseverlauf und Befinden sämtlicher Familienmitglieder zulassen, verbunden mit Gottes Segen für Vater und Mutter. Das kann sehr umständlich werden und ist mit Sicherheit einer der Hauptgründe für die erschreckende Unfallbilanz dieser Länder: Denn es ist nun mal unerlässlich, beim Zusammentreffen mit einem Fremden erst alle diese Sprüche abzuspulen, bevor man ihm zurufen darf: »Vorsicht, hier kommt ein Auto!«
Das nachfolgende Essen machte die Sache nicht leichter. Denn die arme Anna, ungeübt im Umgang mit Esswerkzeug, bemühte sich verzweifelt, Reiskörner mit der Gabel aufzupicken, und stieß beim Versuch, entflohene Brocken wieder einzusammeln, mehrfach ihr Glas um. Heute würde ich mich in einem solchen Fall an die Landessitte halten und selber mit den Fingern weiteressen, um die Verlegenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen, aber damals war ich noch zu unerfahren im Umgang mit fremden Tischsitten. Ich spielte daher die englische Königin, die so erhaben ist, dass sie gar nicht bemerken darf, wenn bei Tisch jemand furzt: Ich tat, als fiele mir Annas Kleckerei, die sich weit über ihren Tellerrand ausgebreitet hatte, überhaupt nicht auf; als wären fliegender Reis, Soßenspritzer auf Haar und Kleidung und ein Cola-See auf dem Tischtuch ein fester, selbstverständlicher Bestandteil meiner eigenen Esskultur. (Und wenn ich ehrlich bin: Wenn ich allein über einen selbst gekochten Eintopf herfalle, ist das von der Wahrheit gar nicht so weit entfernt.)
Anna sagte kein Wort. Wenn auch Englisch neben Kisuaheli die zweite Amtssprache des Landes ist und schon vom ersten Schuljahr an unterrichtet wird, verhinderten Scheu und Verkrampfung, dass sie auch nur eine einzige Silbe hervorbrachte. Mit einem Trick kam aber dann doch eine Konversation zustande, denn wozu gibt es das Taschenwörterbuch »Kisuaheli für Reisende«, mit »1500 Phrasen für jeden Anlass«. Wenn das kein Anlass war!
Ich schlug eine beliebige Seite auf und las vor: Unapenda sigara? (Möchten Sie eine Zigarette?) Dann blätterte ich um und gab ihr das Buch. Anna verstand sofort und las ihrerseits, was in der ersten Zeile stand: Wapi kituo cha petroli kilicho karibu? (Wo gibt es hier eine Tankstelle?) Dafür, dass sie gerade erst in die zweite Klasse gekommen war, las sie erstaunlich gut. Danach war ich wieder dran: Unaweza kutengeneza meno haya ya kubandika? (Können Sie mein kaputtes Kunstgebiss reparieren?) Da mussten wir beide zum ersten Mal lachen.
Damals, vor zwanzig Jahren, war Kenia ein anderes Land, jedenfalls in meinen Augen, dem Tunnelblick des Touristen, der das Bedürfnis hat, genau das zu sehen, für was er gekommen ist, um sich wohl zu fühlen: freundliche, sanftmütige Menschen, tolle Tiere und gepflegte Hotels. Und so war es auch: ein
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